Knurx
Ich
drücke die Klingel. Und was ist, wenn jetzt niemand zu Hause ist? Die Sekunden
dehnen sich zu Ewigkeiten. Endlich ein Geräusch! Die Tür wird geöffnet, doch
ich sehe niemanden. Instinktiv sehe ich nach unten. Da steht ein kleines
Mädchen in der Türe, das mich heimtückisch ansieht, so heimtückisch wie mir
meine Tochter heute in der Früh den Knurx zugeflüstert hat und mich dann
einfach sitzen ließ. Ich mobilisiere meine letzten Kräfte, und frage höflich,
„Ist vielleicht Dein Papi zu Hause?“ „Das kann ich Dir erst sagen, wenn Du mir
sagst wer Du bist!“, fertigt sie mich hochnäsig ab. „Ich bin ein Bekannter
Deines Vaters“, sage ich, „und ich komme in einer Angelegenheit, die von
wahrhaft existenzieller Bedeutung ist.“, setze ich verzweifelt hinzu. „Was
heißt existentiell?“, fragt die Kleine, ohne sich auch nur im Geringsten aus
der Ruhe bringen zu lassen. So eine dumme Frage, was heißt existentiell. Das weiß ich doch jeder, was existentiell
heißt, nur wie erkläre ich es ihr. Zu Hause steht der Laptop, und da drinnen
Wikipedia. Ich habe ein grandiose Idee: „Wenn Du mir zeigst wo euer Lexikon
steht, dann sage ich es Dir ganz genau.“, schlage ich ihr vor. „Weißt Du es
denn nicht selber?“, fragt sie unerbittlich weiter, und kann nicht unterlassen
hinzuzufügen: „Mein Papi sagt immer, man soll keine Wörter benutzen, von denen
man nicht weiß, was sie bedeuten.“ Diese Altklugheit beginnt mich wütend zu
machen, doch ich muß ruhig bleiben, denn diese kleine Göre steht zwischen mir
und meinem Ziel. Eine komische Situation. Bei meiner Tochter ist es
normalerweise umgekehrt, da will sie von mir was. Insgeheim beschließe ich
meiner Tochter nun öfter zumindest zuzuhören. „Aber damit das nicht mehr
passiert, möchte ich nachsehen.“, sage ich im einschmeichelndsten Ton, der mir
möglich ist. Das scheint sie zu überzeugen. Auf jeden Fall tritt sie zur Seite
und läßt mich eintreten. Sie geleitet mich zur hauseigenen Bibliothek.
Vorsichtig öffne ich die Türe und erstarre. Vom Boden bis zur Decke, alle Wände
voller Bücher. Ich bin wirklich vom Regen in die Traufe geraten, aber da, ein
Lichtblick: Mitten im Raum, umringt von all der ehrwürdigen Literatur, steht
ein PC. Ich stürze mich darauf. „Nein, nein,“, reißt mich eine dünne Stimme aus
meinen Hoffnungen, „das darfst Du nicht. Das Lexikon steht dort oben.“
Beklommen folge ich mit den Augen der Richtung, die mir der kleine Arm weist.
Ganz oben stehen die Lexika, meterlang. Seufzend greife ich mir die Leiter und
steige nach oben, greife mir den Band K um die Situation doch noch für mich zu
nutzen, doch sofort ertönt Protest von unten, „Das ist der falsche Band. Dort drüben
steht der richtige.“ So nahe vor dem Ziel, du dennoch stelle ich den Band K wie
Knurx gehorsam an seinen Platz zurück und nehme stattdessen den Band E,
„existentiell,“, lese ich vor, „auf das unmittelbare und wesenhafte Dasein
bezogen, daseinsmäßig.“ Unerbittlich fragt die kleine Stimme weiter: „Und was
heißt das jetzt?“ „Nun ja,“, will ich stotternd erklären … „Dich in Deinem
Innersten betreffend.“, erlöst mich eine Stimme aus meiner Verlegenheit, eine
tiefe, ruhige Stimme. Vor lauter Dankbarkeit über die erlösende Erscheinung des
Professors vergesse ich beinahe, daß ich immer noch auf der Leiter stehe. Fast
wäre ich ihm zu Füßen gefallen. „Ach Du hast gemeint, daß es wichtig ist.“,
läßt sich die Kleine wieder vernehmen, „Warum hast Du das nicht gleich gesagt?“
Ich
übergehe diese unqualifizierte Frage geflissentlich. „Herr Professor,“, wende
ich mich an den ehrwürdigen Herrn, „ich komme zu Ihnen mit einer höchst
dringlichen Frage.“ „Es ist zwar eine höchst merkwürdige Art in mein Haus
einzudringen,“, wobei er seine Aussage mit einem höchst abschätzigen Blick
begleitet, „aber wenn Sie schon mal hier sind, dann fragen Sie.“ „Sagen Sie
mir, Herr Professor, was ist ein Knurx?“, kann ich meine Frage endlich
loswerden. „Bitte was?“, fragt er verwirrt. „Schlicht ein Knurx.“, gebe ich
zurück. Ich beginne mißtrauisch zu werden. „Knurx,“, überlegt er, „vielleicht
eine Abkürzung … ist mir das nicht in einer Publikation letztens untergekommen
… nein, oder …“. „Papi!“, mischt sich die Kleine ein, „Papi“, und zieht ihn am
Rockschoß. „Nicht jetzt.“, gibt der Vater zurück, „Ich muß nachdenken.“ „Aber
Papi …“. „Ich sagte, nicht jetzt, ich muß nachdenken.“, und wieder mir
zugewendet, „Ich muß gestehen dieser Fachterminus ist mir – und es muß einer
sein, dessen bin ich mir sicher – gerade nicht gegenwärtig, aber ich werde
einen Fachkollegen konsultieren.“ Peinlich berührt darob mir keine Auskunft
geben zu können, ja bei einer Wissenslücke ertappt worden zu sein, greift er
zum Telephon. „Herr Kollege,“, beginnt er, „es ist Ihnen sicherlich bekannt was
ein Knurx ist. Können Sie meinem Gedächtnis auf die Sprünge … aber Herr
Kollege, Knurx. Ich glaube mich zu erinnern, der Terminus … gut, sehen Sie
nach.“ Ein wenig scheint er beruhigt, da der Kollege auch nicht Bescheid weiß. „Aber
Papi,“, bleibt die Kleine beharrlich, doch der Herr Professor hat jetzt kein
Auge für sie. „Aha, ich verstehe eine Sache von höchster nationaler Bedeutung,
eine Geheimsache. Ich danke Ihnen.“ Damit legt er den Hörer auf und wendet sich
wütend zu mir: „Sie, Herr, wie kommen Sie zu Nationalgeheimnissen? Die Polizei
wird kommen – Sie brauchen sich nicht zu rechtfertigen.“, unterbindet er meinen
Einspruch, „Dann können Sie alles erzählen. So lange werden Sie mein Gast
sein.“ Als ich weggeführt werde, höre ich noch hinter mir ein leises, „Aber
Papi, das ist doch alles ganz anders. Es weiß doch wirklich jeder was ein Knurx
ist …“
Nach
einem zweistündigen Verhör, und der lapidaren Feststellung, daß ich wohl nur
geistig verwirrt wäre, werde ich der Obhut meiner Frau übergeben. Gott sei
Dank, endlich zu Hause. Ich lasse mich auf das Sofa fallen, erschöpft,
ausgelaugt. Meine Tochter läuft an mir vorbei. „Nathalie,“, wende ich mich
kleinlaut an sie, „sag mir bitte was ein Knurx ist.“ „Aber Papi,“, sagt sie
etwas abschätzig, „was ein Knurx ist, das weiß doch wohl jeder. Ein Knurx ist
jemand zum Liebhaben.“
An
diesem Abend fand meine Tochter eine kleine Botschaft auf ihrem Kopfpolster:
„Du bist mein Knurx.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen