1607 Im Paradies gab es keine Bücher ... (Teil 1)


„Warum? Ja, warum? Da gibt es viele Antworten, aber laß mich ganz schlicht von vorne anfangen.“ „Wo ist vorne?“, unterbrach sie ihn schon wieder, in ihrer vorwitzigen, ungeduldigen Art, die nach dem Ende der Geschichte verlangte, bevor er noch angefangen hatte zu erzählen. Sicher, abendfüllend müßte sie schon sein, diese Geschichte – in höchstens zwei Sätzen. „Wenn Du mich ausreden lassen würdest,“, unterstrich er den sanften Druck seines Zeigefingers auf ihren Lippen, „würde ich Dir all Deine offenen Fragen beantworten. Denk nur an die Geschichte mit dem Apfel. Wenn Du mich damals hättest ausreden lassen, wären wir noch dort … .“  „Schieb nicht wieder alle Schuld auf mich,“, gab sie trotzig zurück, „wie diese antifeministischen Interpreten.“ „Wenn Du so weitermachst bestätigst Du sie doch selbst.“, entgegnete er milde lächelnd über ihr beherztes, ungemildert feuriges Temperament. „Du weißt, wir haben die ersten tausend Jahre nach unserer Vertreibung aus dem Paradies mit kaum etwas anderem verbracht, als darüber zu streiten, wer denn nun schuld war. Und der Herr hat uns ja auch nicht ganz verstoßen. Er ist bei-uns geblieben. Wohl ein wenig anders als vorher, aber Er blieb. Und was noch sehr wichtig ist, Er hat uns zusammen gelassen. Er hat uns nicht wieder getrennt und der Sprachlosigkeit ausgesetzt. Milder hätte kein Herr mit uns verfahren können, zumal nach dem, was wir Ihm angetan haben, und nicht Er hat uns das Leben schwer gemacht, sondern wir uns selbst. Viel zu viel Zeit haben wir damit verbracht gegeneinander zu sein, statt dessen hätten wir miteinander danken sollen für das, was uns geschenkt wurde und wird … aber siehst Du, jetzt hast Du mich schon wieder so weit, daß ich vor lauter Entgegnungen fast vergessen hätte, daß ich einiges richtig zu stellen habe.“ Ganz sacht schmiegte sie sich in seinen Arm, die rechte Hand auf seine Brust gelegt, „Gut, ich werde versuchen Dich so wenig wie möglich zu unterbrechen.“, sagte sie in erwartungsvollem Ton. „Wir werden sehen.“, nahm er ihr Anerbieten, betont skeptisch zur Kenntnis, und fuhr fort.

„Von einem auf den anderen Moment war ich da in die Welt gesetzt worden, inmitten all der wunderschönen Pflanzen, lustig umherspringenden, schwimmenden, fliegenden Tieren. Es muß wohl Sommer gewesen sein, denn die Jungen der verschiedensten größeren Säugetieren begannen gerade sich von der Mutter abzunabeln. Die Früchte des Feldes, der Bäume und Sträucher waren prächtig gereift, dank des hervorragenden Klimas, das das Gebiet zwischen Euphrat und Tigris, auszeichnet. Plötzlich war ich da mitten drinnen. Ich bediente mich der Früchte, die in solcher Überfülle zu Gebote standen, daß sie für all die verschiedenen Tiere, und darunter auch für das seltsamste, nämlich mich, ausreichten. Die Tiere waren mir nicht feind. Sie ließen sich aber auch nicht weiter stören. Ich war für sie einfach da. Sie kamen zu mir, besahen mich eingehendst und stellten sich mir vor, jedes nach seiner eigenen Art. Und mit allen von ihnen schloß ich Freundschaft, doch mit einem ganz besonders: Mit einem kleinen Pony, das mir nicht mehr von der Seite wich, und zu dessen Gedenken ich unserer jüngsten Tochter dieses kleine Hutschpferdchen geschnitzt hatte. Es ließ mich, wenn ich vom Umherstreunen müde war, au f seinem Rücken sitzen. Leichten Fußes trug es mich derart bis zu den äußersten Rändern des Deltas. Da sah ich das Meer, und auch die beiden Flüsse. Ich schloß auch mit den Fischen und Tieren aller Art, die im und beim Meer lebten, Freundschaft. Alle kamen sie um mich zu sehen – denn es gab kein zweites Tier, das so aussah wie ich. Und Gott kam mich besuchen. Jedes Mal, wenn die Sonne die Erde in ihr Licht tauchte, kam Er, und wenn das Licht wegging, zog auch Er sich zurück. Er erklärte mir alles – die Sonne, den Mond und die Sterne, die Tiere und die Pflanzen. Er gab mir die Hand und ging mit mir spazieren – und ich wußte, da Er mit mir war, immer, wenn ich die Augen öffnet, bis ich sie wieder schloß, und während des Schlafes war ich geborgen in seiner Hand, wie alles andere, was Er so wunderbar gemacht hatte. Alles war gut, denn Er hatte es gemacht, doch nur mit mir ging Er spazieren. Mein Pferdchen streichelte Er hatte es lieb. Er freute sich, wenn das Kälbchen sich gut entwickelte. Er beobachtete gespannt wie das Fohlen sich mühte sich auf seinen schwachen Beinen aufzurichten. Und klatschte in die Hände, als es ihm gelang. Jedem Geschehen schenkte Er seine innigste, liebevollste Zuneigung, doch nur mit mir ging Er spazieren und gab es mir zu verstehen. Ich denke, ich verstand es auch, nur warum ich es verstand, und vor allem, warum nur ich, das verstand ich nicht. Obwohl ich mit allen Tieren Freundschaft geschlossen hatte, gehörte ich doch nicht ganz zu ihnen. Irgendwie hatte ich von jedem von ihnen etwas, worin es mir überlegen war oder was ich nicht hatte. Zu aller erst waren von jeder Art mehrere da, im mindesten zwei, von manchen Arten gar deren hunderte, ja tausende. Nur ich war der einzige meiner Art – das seltsamste Tier, da das vereinzelste. Auch mein Pony hatte Artgenossen, denen es zuwieherte, und die ihm antworteten. Da dachte ich mir, Du mußt auch wiehern. Ich versuchte es, jedoch, da kam kein freudiges Wiehern zurück, wie ich es bei meinem Pony erlebt hatte, sondern nur ein erstaunter Blick. Nun versuchte ich es bei den Ziegen, bei den Vögeln und all den anderen Tieren, doch überall, wo immer ich es auch versuchte, dasselbe Resultat: ein erstaunter, verständnisloser Blick. Das sah auch Gott, der mit mir spazierenging, daß ich traurig war, und immer trauriger wurde. Weil Er all seine Geschöpfe liebt, konnte Er es nicht dulden, daß eines unter ihnen, und sei es der kleinste Floh, traurig war. Daher sprach Er: ‚Es ist nicht gut, daß der Mensch alleine bleibt.‘ Und zum ersten Mal seit meiner Ankunft fiel ich in tiefen Schlaf während die Sonne noch hoch am Himmel stand, und …“

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