1707 Im Paradies gab es keine Bücher ... (Teil 2)


„Untersteh Dich mir jetzt die Geschichte mit der Rippe zu erzählen.“, fuhr sie aufgeregt dazwischen. „Wie kommst Du denn auf die Idee. Wir wissen doch beide allzu gut, daß das nicht stimmt, allerdings war das – und das wissen wir ebenso – auch nicht die Intention derer, die unsere Geschichte niederschrieben. Das sie dann allerdings später so interpretiert wurde, dafür kann niemand etwas.“, gab er ihr zurück. „Es geht nun darum dies richtig zu stellen“, fuhr er fort, „und die eigentliche Intention, die sich hinter der Verwendung dieser Metapher verbirgt, offenzulegen, und daß es sich bei dieser Metapher um eine der schönsten überhaupt handelt, dann wirst Du mir doch zustimmen müssen.“ „Natürlich,“, erwiderte sie nachdenklich, „doch was nützt die schönste Metapher, wenn sie nicht mehr recht verstanden wird oder richtig verstanden werden will. Hören werden sie, heißt es, hören aber nicht verstehen.“ Er sah ihr offen in die Augen, sprach, und es klang traurig.

„Und wie lange, wie lange haben wir nicht richtig verstanden … nicht nur gewußt, sondern erfahren und nicht verstanden …?“, so traurig, als wollte er all das Durchlittene in diesem einen Satz bündeln – vegetierend, losgelöst – damals – Dich verloren, Dich, und scheins eine unendlich lange Zeit nicht wiedergefunden, doch vielleicht war es nur die eine Nacht, in der wir traumlos schlafend das Bild nicht mehr fanden, das von Dir. – Du mich an der Hand nahmst, und ich nichts spürte als mich selbst – kalte, eiskalte Erkenntnis, damals, als wir lernten Ich zu sagen, und uns zu behaupten. Nicht, daß wir den Apfel nahmen war die Sünde, sondern, daß wir ihn nahmen und sagten, ‚Ich will!‘ Da erst tratst Du aus mir heraus, weg, in gänzliche Eigenständigkeit. Verbissen, verbohrt ineinander – niemals wieder so viel Ferne zwischen uns. Und der Schrei des Entsetzens klingt noch immer durch das Universum, wohin, wohin habe ich Dich verlassen, wohin Dich vergraben, daß ich Dich nicht mehr finden kann, wohin mich abgewendet, wohin mich verloren, in die ewige Dunkelheit? Das Selbstverständliche des Du-sagen, des Dich-sprechen, wurde überlagert vom Bewußtsein, und darunter begraben – wir hatten Ich gesagt, wir hatten gewollt, mich selbst – und dann nichts mehr. Im Schweiße unseres Angesichts sollten wir arbeiten – nicht die Arbeit war geworden, sondern wir blind – aneinander und füreinander, blind für das Innerste unseres Wesens, und damit auch für alles uns Umgebende. Das Trennende im Ich-Sagen war, und es gebar den Haß. Und wollten wir uns in die Augen sehen, so mußten wir danach tasten. Ich stand darauf, breit und schwer, so schwer, daß kein Lichtstrahl es durchbrechen konnte. Dunkel war die Nacht des Ich, dunkel wie die Nacht. „Und die Erde war wüst und wirr.“ In uns war es wüst und wirr. Dürstend, ersterbend nach dem Wort des Lebens. Vom falschen Brot hatten wir uns genährt, von der Selbstsucht, die uns umso hungriger zurückließ, je mehr wir uns an ihr zu sättigen suchten. Fleisch an Fleisch – heftig, betäubt, fragten wir, wo bin ich hinweg von Dir, Du, das ich spüre, und nicht mehr spüre, Du, das ich vernehme und nicht mehr verstehe, Du, das ich war und nicht mehr bin. Du, wohin bist Du mir weggegangen. Die Nacht der endlosen Frage – und der Verweigerung zu vernehmen.

In jedem von uns vollzieht sich diese Nacht einmal, mehrmals, wenn wir nicht gar ganz in ihr stecken bleiben. Manche lernen zu vegetieren – und verbleiben in der ewigen Nacht der Ich-Einsamkeit, fernab der Liebe, der Wahrheit, der Sprache – fernab. Doch wo die Sehnsucht bleibt, da können wir nie zulassen uns mit der Leere zu versöhnen. Der Schmerz in meinem Herzen, macht aufmerksam auf den Platz, an dem Du fehlst  - und ich sage, mir fehlt eine Rippe. Was ist es um diese Rippe, von der ich sage, daß sie mir fehlt? Nur der Schmerz, der mich durchbohrt, ihn sagbar zu machen? Ist es denn so wenig existenziell? Bloß ein Knochen, beliebig variierbar mit einem anderen, so daß ich ebenso gut sagen könnte, mir fehlt der Ringfingerknochen oder der Schienbeinknochen? Die wären sogar verständlicher, denn dann wäre doch zumindest eine wichtige Funktion außer Kraft gesetzt, aber wenn da bloß eine Rippe fehlt – dann kann mich das vielleicht stören, und sei es nur aus Symmetriegründen, doch ansonsten bleibe ich funktionsfähig. Oder geht es dabei doch um etwas anderes? Laß uns diese Rippe mal ein wenig eingehender betrachten. Was für eine Funktion haben Rippen? Zunächst sollen sie die lebenswichtigen Organe schützen – das Herz und die Lungen, den Brustkorb stützen. Und dann, meine ich auch nicht irgendeine beliebige Rippe, sondern die eine, links zunächst dem Herzen. Das, was ich meinem Herzen zunächst stelle, das ist mir vertraut, und dem bin ich vertraut, dem habe ich mein Innerstes offenbart, und er mir das Seine, von dem bin ich erkannt worden, und den habe ich erkannt, weil er sich von mir erkennen ließ. Dort, wo diese Rippe ist, das ist Dein Platz in mir. Ich gebe die Rippe – ich mache mich freiwillig ein wenig schutzloser für Dich, ich gebe einen Teil dessen weg, das mich schützt – ich mache mich angreifbar, erkennbar, gebe mich offenbar. Ich gebe mich preis, um Dich ankommen lassen zu können – dort, an der verwundbarsten Stelle meines Körpers, dort kannst Du mich treffen. Und Du erweist Dich mir in Deiner Liebe, wenn Du mich schützt, stützt und stärkst, wenn Du mich in Dir ebenso umschließt wie diese Rippe – nur so konntest Du zu mir kommen, nur deshalb kannst Du mich töten. Und der Schmerz, wenn Du gehst, ist der des Preis-gegeben-seins und –bleibens. Die Rippe fehlt – Du bist nicht mehr. Dieser Platz bleibt leer, und kann nur von Dir wieder eingenommen werden. Der Verlust der Rippe, als Symbol der innigsten Vereinigung zwischen mir und Dir, zwischen Du und Du.“

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