3107 Erkennen
Erkennen
Was es zu erwarten gilt ist nichts im Vergleich zu
dem, was zu erkennen wir vermöchten und uns doch scheuen. Wenn Du
niederbrichst, dann nicht nur, weil Du aufgibst, weil Du völlig ausgelaugt und
erschöpft bist, vom ständigen Hetzen und Davoneilen, nicht nur, weil Dich das
Fehlende schmerzt, und das ist mehr als bloß Dein Bein. Hattest Du bisher
gehofft es zu finden, weit weg von hier, etwas, das Du dort draußen vermeinst
und was Du nur erhaschen musst. Dem bist Du hinterher gerannt, obwohl Du noch
nicht einmal wusstest, ob es das wirklich gibt, geschweige denn was es sein
könnte. Es war nur nicht da, nicht um Dich, nicht in Dir, nicht an Dir, nein,
dort draußen irgendwo, irgendetwas. Mehr als bloß eine vage Hoffnung. Nichts
weiter als eine trügerische Illusion, die Dir irgendwann einmal eingegeben
wurde. Ein Flüstern in Deinem Kopf. „Geh weiter, immer weiter“, raunte es Dir
zu. „Aber warum erreiche ich nichts?“, fragtest Du verunsichert. „Weil Du nicht
schnell genug bist!“, antwortete die Stimme, doch nun konntest Du nicht mehr, obwohl die Stimme sich nicht
abstellen ließ, Dich immer weiter und weiter antrieb. Und erst jetzt, da Du auf
der Erde lagst, jetzt konntest Du den Blick ruhen lassen. Da war sie wieder,
diese Hand. Direkt vor Dir kam sie aus der Erde. Eigentlich wirkte sie sanft
und weich. Es war nicht die Hand, die Verderben bringt. Doch das hattest Du
nicht sehen können, zuvor, hattest Du nicht erkennen können, weil Du so viel
erwartet hattest, und die Erwartungen machten Dich blind für das, das sich Dir
zuwandte. Die Hand war offen und aufnahmebereit. Vielleicht wollte sie nicht
Dich hinunterziehen, sondern vielmehr von Dir heraufgezogen werden. Was hattest
Du schon zu verlieren? Das Vielleicht, das Du erreichen wolltest? Wer weiß ob
es das überhaupt gibt. Eigentlich konntest Du nur gewinnen. Die Hand war offen
und zugewandt, verblieb, in Erwartung. Sie drängte nicht und drohte nicht,
sondern war einfach da, da Du nicht mehr versuchtest zu entkommen. Die Hand
wirkte verletzlich in ihrer Offenheit. Vorsichtig nähertest Du Dich ihr. Es war
wohl nicht ohne Zaudern, aber Du wagtest es, legtest Deine Hand in diese, von
der Du wähntest, sie wolle Dich in Stücke reißen, gerade eben noch, und die
Finger dieser Hand schlossen sich sanft um die Deinen. Der Griff war stark,
aber nicht fesselnd, haltend, aber nicht fordernd. Und wenn Du jetzt den Arm
ein wenig hobst, so befreitest Du den, der dort unter der Erde verschüttet war,
verschüttet unter all den Erwartungen, die er sich aufbürden ließ. Niemand
hatte ihn mehr gesehen. Irgendwann hatte er aufgegeben, wollte nicht mehr
entsprechen, aber sie hörten nicht auf ihn damit zu bewerfen, bis er völlig
darunter begraben lag, und er reichte Dir Dein Bein, wo Du ihn wieder ins Licht
gehoben hattest. Er hatte sich sich bewahrt, trotz allem. „Deine Hand, sie hat
mich berührt“, sagte er. „Ja, meine Hand hielt Deine“, und da merktest Du, dass
seine Hand immer noch in der Deinen lag. „Deine Hand hat nicht nur meine Hand
berührt, sondern mich“, entgegnete er, und Du begannst zu verstehen. Das was Du
gesucht, dem Du hinterhergehetzt warst, das war jetzt bei Dir, jemand, der Dich
berührt und Dich sein lässt, jetzt und hier. Und Du, Du hattest ihn befreien
können von all dem Beschwerenden, weil Du keine Erwartungen stelltest, weil Du
offen und annehmend warst, wie die Hand, die sich Dir entgegengestreckt hatte.
„Es war niemals anders als jetzt. Es war immer hier, um mich, in mir, die
Möglichkeit und auch das Erreichen“, fasstest Du zusammen, „Warum nur habe ich
es nicht gesehen? Warum nur war ich so blind?“ „Warum nur habe ich es so lange
zugelassen die Erwartungen anderer auf mich zu nehmen?“, fragte er seinerseits,
„Warum nur habe ich es nicht gesehen, dass ich nach und nach begraben werde?
Warum nur war ich so blind?“ Und Deine Hand lag in der seinen. Es war die
Antwort. Es war das Versprechen.
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