Es gehört sich nicht
„Ich hatte letzte Nacht einen Traum, aber
ich bin mir nicht sicher ob es ein Traum war.“
„Wie kann man sich nicht sicher sein ob es
ein Traum war? Du hast geschlafen und erlebtest etwas, was nicht real geschah.
Das ist wohl ein Traum.“
„Woher soll ich das wissen ob ich schlafe,
wenn ich schlafe. Es hat schon etwas Seelenloses und Beängstigendes, das
Schlafen. Man ist dabei, man erlebt Dinge, und doch weiß man nicht ob man
wirklich dabei ist oder nicht. Nein, richtiger wäre zu sagen, ich bin dabei,
ich erlebe Dinge, und doch weiß ich nicht ob ich wirklich dabei bin oder
nicht.“
„Aber ich nehme an, Du wolltest mir von dem
Traum erzählen?“
„Nein, das wollte ich nicht! Wie kommst Du
darauf?“
„Weil, wenn jemand anfängt mit den Worten,
ich hatte letzte Nacht einen Traum, dann ist das quasi die Einleitung zur
Erzählung des Traumes, novellenartig angelegt. Wie viele Leute doch Novellen
erzählen ohne es zu wissen.“
„Novelle oder Essay oder Kurzgeschichte.
Was tut das schon? Es ist doch immer das Gleiche, wie Du es nennst.“
„Das lass doch mal einen
Literaturwissenschaftler hören.“
„Mache ich, bei Gelegenheit. Aber nur weil
jemand oder irgendeiner oder man das so macht, heißt es noch lange nicht, dass
ich das so wollte. Wo bleibt da die Überraschung im Leben? Außerdem sagte ich
noch mehr. Ich sagte. Ich hatte letzte Nacht einen Traum, aber ich bin mir
nicht sicher ob es ein Traum war. Das zeigt doch ganz deutlich, dass ich nicht
den Traum erzählen will, denn sonst hätte ich gesagt: In meinem Traum geschah
oder so ähnlich. Ich aber sagte, ich sei mir nicht sicher ob es ein Traum war.“
„So, wortwörtlich hast Du das gesagt? Was
Du für ein Gedächtnis hast!“
„Das hat nichts mit Gedächtnis zu tun,
sondern nur damit, dass ich nicht nur Dir, sondern auch mir zuhöre.“
„Nein, so viel Aufwand treibe ich nicht. Es
hat mir auch keiner gesagt, dass ich mir selbst zuhören muss. Immer heißt es,
es ist ein Akt der Höflichkeit seinem Dialogpartner zuzuhören, aber niemals,
wirklich niemals hat mir jemand gesagt, es gehöre sich sich selbst zuzuhören.“
„Als wenn sich das nicht von selbst
verstünde. Sich selbst verstünde – sich nicht gehörte. Also gehört es sich,
versteht es sich. Was hat es also mit mir zu tun? Warum lasse ich mir sagen was
sich gehört oder nicht gehört? Es gehört sich. Es sich. Es gehört sich nicht
nicht zuzuhören. Das Nicht-Zuhören gehört dem Sich-Nicht-Zuhören, also nicht
mir. Wenn Du also mir zuhörst, so solltest Du es tun, weil Du es willst, und
nicht weil es sich gehört, denn das Zuhören gehört ja damit auch sich und nicht
Dir. Du solltest Dir zuhören, weil es den Redefluss erleichtert. Also. Ich
hatte letzte Nacht einen Traum, aber er kam mir nicht vor wie ein Traum. Was
ist jetzt die richtige Frage?“
„Warum warst Du nicht sicher ob es ein
Traum war?“
„Perfekt. Du lernst schnell. Es war nicht
wie ein Traum, weil es so real war, so nahe und so lebendig. Ich atmete darin.
Ich roch das herbstliche Laub. Ich spürte die Kälte und die Nässe in meinen
Füßen. Es war, als würde ich den Weg hinunterlaufen zu den Weinbergen, Du weißt
schon, den hinter dem Haus. Als erst geht es ein Stück bergauf und dann wieder
bergab. Die Weinstöcke waren abgeräumt. So wie es eben jetzt aussieht. Alles
abgestorben und vermodert. Die Natur frisst sich selber auf im Herbst, sammelt
neue Kräfte im Winter, um dann, im Frühling, den Platz, der durch das Absterben
gewonnen wurde, wieder neu zu beleben. So ist das. Es war nahe und alles da.
Bloß die Weintrauben waren abgeerntet. Bis auf eine, eine verschrumpelte.
Übersehen und vergessen. Hartnäckig hing sie da, als wäre sie davon überzeugt
doch noch abgeerntet zu werden. ‚Mein Bauer holt mich noch. Ganz sicher’, sagte
sie zu mir.“
„Es gehört sich nicht mit vertrockneten
Weintrauben zu sprechen, wenn sie so eingebildet sind sich nicht Rosinen zu
nennen.“
„Es gehört sich nicht und nicht mir. Also
spreche ich mit der verschrumpelten Weintraube, gleich wie sie sich nennt, und
denke, dass das eigentlich ich bin.“
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