Die kleine verschrumpelte Weintraube
„Du bist eine kleine Rosine. Du siehst aus,
als wärst Du sehr süß, aber kalt.“
„Ich bin keine Rosine. Ich bin eine
Weintraube.“
„Kleine, verschrumpelte Weintrauben nennt
man nun mal Rosinen. So ist es Brauch im ganzen Lande, landauf, landab. Frag
wen Du willst. Jeder wird sagen, dass Du eine Rosine bist.“
„Eine Rosine wäre ich dann, wenn ich nicht
hier am Weinstock sondern in einem Päckchen wäre mit vielen anderen Rosinen, um
gegessen zu werden, um noch irgendeinen Nutzen zu haben. Aber so lange ich hier
hänge bin ich eine Weintraube, wenn auch eine vergessene, wie ich langsam
geneigt bin zu glauben. Gesagt haben mir es schon viele, aber glauben wollte
ich es nicht.“
„Ach so schlimm wird es schon nicht sein.
Beim nächsten Mal vielleicht.“
„Das sagst Du so. Du gehst hier vorbei,
weißt nicht mal ob Du wach bist oder träumst, und willst mir Illusionen machen.
Du denkst Dir doch auch sicher, bäh, schaut die grausig aus. Die möchte ich
nicht angreifen.“
„Es muss ja auch nicht ich sein, weil ich
Rosinen nicht mag, aber wenn wer kommt, der Rosinen mag, dann wird er Dich
pflücken.“
„Ich bin gewachsen, hier am Stock, und der
Bauer kam und besah uns allesamt. Zu mir, ja speziell zu mir, sagte er, dass
ich eine der schönsten werden würde unter all den Trauben, und das spornte mich
an. Ich wurde eine der schönst, größten unter allen. Den ganzen Sommer wuchs
ich. Viele von den Trauben wurden stibitzt, manche noch bevor sie überhaupt
reif waren, doch ich nicht. Für die kleinen Tiere und Menschen hing ich zu hoch
oben, und vor den großen Menschen und Vögeln versteckte ich mich hinter den
Blättern. Ich wollte vom Bauern geerntet werden. Vielleicht würden dann alle
anderen in die Presse kommen, nur mich, mich würde er zu sich nehmen – was auch
immer das bedeutet, denn ich bin die Schönste. Und dann kam der Tag der Ernte.
Die meisten wurden gepflückt, doch bei mir sagte er, er wolle noch warten, denn
ich würde noch schöner werden. Drei Mal kam er und erntete, doch jedes Mal
blieb ich hängen, und irgendwann war ich die letzte. Die Sonne blieb aus und
die Kälte kam, und ich blieb. Meine Haut verlor ihre Glätte und die
Feuchtigkeit entwich, so dass ich langsam aber sicher vertrocknete. Der Sommer
kam wieder und trocknete mich restlos aus, und so bin ich, wie Du mich hier
siehst. Drei Winter gingen ins Land, und ich hänge immer noch. Langsam glaube
ich es auch, der Bauer will mich nicht mehr. Er hat einfach darauf vergessen,
dass ich einmal die Schönste war.“
„Nun davon ist ja auch nichts mehr zu
merken. Jetzt bist Du die einzige, verschrumpelt, alt und vergessen.“
„Aber ich habe mich zurückgehalten und
aufgespart, für den Moment, da er mich holen würde. Habe mit mir gegeizt und
nichts hergegeben, und jetzt, jetzt will mich keiner mehr.“
„Hättest Du das, was Du zu geben gehabt
hättest, nicht so versteckt, so hätten viele was davon gehabt. Jetzt jedoch hat
keiner mehr was davon. Jetzt bist Du nur
mehr eine vertrocknete Rosine ohne Wert.“
„Jetzt bin ich eine vertrocknete
Weintraube, ausgelaugt und verschrumpelt, nicht einmal mehr tauglich für ein
Müsli.“
„Schade drum.“
„Und der Bauer kommt im Frühjahr und sieht
die jungen Triebe und die vielversprechenden Trauben, und mich wird er nicht
mehr sehen.“
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