0702 Anonym (Teil 4):


Le Point Noir


Niemand darf meiner kleinen, süßen Schwester wehtun. Viel zu lange hatte ich Dich alleine gelassen. Jetzt würde ich bleiben, zumindest in Deiner Nähe, denn ich war mir sicher, dass Du in die Stadt gehörtest, und nicht hier aufs platte Land, in einen Ort mit gerade mal zehn Häusern und zwei Wirtshäusern. Dein Platz war dort, wo das Leben pulsierte. Die Liebe würde Dich treffen, wie mich damals. Nur Du würdest nicht davor davonlaufen.´, sondern sie mit beiden Händen ergreifen, so wie Du das Leben mit offenen Händen ergriffst, sie Dir füllen ließt, als gäbe es kein Morgen. Und vielleicht sollte man es auch so halten. Nicht denken, dass es ein Morgen gäbe, sondern den Moment ausschöpfen bis zur Neige.

„Ich werde mich ein wenig zurechtmachen“, sagtest Du leichthin, und der Brief schien völlig vergessen, der Brief, den ich noch immer in Händen hielt. Langsam legte ich ihn weg und griff nach meinem Buch.
„Gehst Du noch fort? Hast Du heute abend was vor?“, fragte ich wie nebenbei, eigentlich schon wieder in der Lektüre verloren, doch nicht so sehr wie sonst.

Warum eigentlich war ich damals weggegangen? Wie hatte ich das nur fertiggebracht? Damals, Dich alleine zu lassen, Hals über Kopf, gedankenlos, aber ich war auf der Flucht vor etwas, das mich sonst erdrückt hätte, dachte ich zumindest. Zehn Jahre in Irland bevor ich den Weg zurückfand. Es waren zumindest keine schlechten Jahre, aber Du, letztendlich auf Dich alleingestellt. Natürlich, Du warst gut aufgehoben, in dem Internat und den Sommer und die anderen Ferien verbrachtest Du bei mir auf der grünen Insel, aber letztendlich hatte ich Dich doch abgeschoben um mein eigenes Leben zu leben. Dabei war das, was ich eigenes Leben nannte nichts weiter als eine Fata Morgana, eine Täuschung. Zehn Jahre verwendete ich darauf sie zu fassen, bis ich es endlich einsah. Dann erst hatte ich die Kraft zurückzukehren, auch zu Dir. Ich hatte Dich um Verzeihung gebeten. Du meintest nur, dass es nichts zu verzeihen gab. Ich musste zugeben, Du hattest recht, denn das, was ich Dir angetan hatte, das konnte man nicht verzeihen. Dachtest Du noch daran? Du warst so teilnahmslos demgegenüber, dass ich es nicht auszusprechen vermochte. Die Schuld blieb. Aber hatte ich denn eine Wahl gehabt?

Ein schneidendes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken.
„Machst Du auf?“, hörte ich aus dem Badezimmer rufen, „Das muss Pünktchen sein. Sag ihm, ich bin in Null Komma Nichts fertig.“ Und während ich noch an Pünktchen und Anton dachte, ging ich zur Türe.
„Wer bitte heißt Pünktchen?“, fragte ich leichthin.
„Eigentlich nennt er sich ‚Le Point Noir’. Du weißt schon, wegen der Eigenart seine Bilder mit einem schwarzen Punkt zu signieren. Du hast sicher von ihm gehört“, tönte es wiederum aus dem Badezimmer, „Er will mich malen, hat er gesagt. Ich bin seine Muse.“ Ein helles Lachen begleitete Deine Worte, als wäre es ein guter Scherz, den er gemacht hatte. Aber wer hätte nicht von ihm gehört. In den letzten Wochen war sein Name in aller Munde. Er wurde schon als der neue Picasso gehandelt, doch leider war es nur sein Name, der durch die Medien ging. Könnte auch sein, dass ich auf Bilder von ihm nicht geachtet hatte. Hätte ich es getan, ich wäre vorbereitet gewesen.

„Martin? Du?“, fragte ich, und meine Stimme trug sie weiter, meine Unruhe, meine Angst, während jener Abend neu vor meinen Augen erstand. Nasskalt und dunkel war es an diesem 11. November vor nunmehr über zehn Jahren. Ich sah mich stehen, an dem Ort, an dem wir uns verabredet hatten, doch Du kamst nicht. Zwei Stunden habe ich auf Dich gewartet, und dann fasste ich einen Entschluss. Ich ging weg und wollte nie mehr wieder kommen. Doch jetzt, wo er wieder vor mir stand, jetzt war es mir, als wäre der 12. November vor zehn Jahren. Gerade mal eine Nacht lag dazwischen, schien es mir, was mir im Durchleben wie eine Ewigkeit erschienen war.

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