Umschwung
Der zweite
anonyme Brief, die gleiche Handschrift. Es war wohl vom selben Verfasser
auszugehen. Allerdings, es wurden so wenig Briefe mehr geschrieben, und unter
diesen musste wohl der Anteil der anonymen verschwindend sein. Daraus schloss
ich, dass es wohl beinahe unmöglich war von zwei verschiedenen Verfassern
innerhalb von drei Tagen einen anonymen Brief zu erhalten. Vielleicht hattest
Du recht, und ich las tatsächlich zu viel, aber in all den Geschichten, die ich
kannte, waren anonyme Briefe immer ein Vorspiel für eine große Tragödie. Wäre
es denn denkbar, dass ein anonymer Wohltäter die Lebensumstände seiner
Adressaten auskundschaftete, um sie dann mit motivierenden, aufbauenden,
anteilnehmenden Botschaften zu versorgen?
Der Hund der
Frau, die im obersten Stockwerk wohnte, war überfahren worden. Niemand kümmerte
sich darum, weil sie mit niemandem sprach, aber am nächsten Tag war da ein
anonymer Brief, der wie folgt lautete:
„Liebe Frau K.!
Anhänglich und
treu ist der Hund als Gefährte des Menschen. Gestern wurde ihr Hund überfahren.
Ich kann Ihren tiefen Schmerz nachvollziehen. Allein und einsam bleiben Sie
zurück, doch Sie können einem anderen Lebewesen helfen. Unten am Fluss wurden
zwei Welpen ausgesetzt. In Gedenken an Ihren Struppi, nehmen Sie sich ihrer an.
Mein herzlichstes
Beileid,
ein Freund.“
Und die Frau würde
zum Fluss gehen und die Welpen finden und sich ihrer annehmen. Sie hätte wieder
eine Aufgabe und würde den Verlust von Struppi verwinden. Darüber hinaus würden
sich noch die Nachbarskinder mit ihr anfreunden. Die Eltern würden entdecken,
dass Frau K. keine Hexe wäre, sondern gut als Leihomi geeignet und und und
Es wäre eine
positive Geschichte, aber wie grässlich. Nein, so etwas gibt es nicht. Wenn
jemand schon so viel Energie investiert, dann in nichts Gutes. Die Motivation
seinen Mitmenschen Böses anzutun ist weitaus größer als das Gegenteil. Ich
durfte mir da nichts vormachen. Natürlich könnte man darüber nachdenken was
alles Positives geschehen könnte, würden diese Kräfte anderweitig eingesetzt,
aber es war ein müßiger Gedankengang, denn das würde nur passieren, wenn der
Mensch nicht mehr der Mensch wäre, der er war.
„Also, was steht
in Deinem Brief?“, fragte ich ruhig.
„Ich weiß es noch
nicht. Ich musste doch zuerst Deinen Brieföffner holen“, sagtest Du lächelnd,
und tatsächlich konnte ich beobachten, wie Du den Brieföffner sorgfältig
anwendetest.
„So ist es viel
besser“, konnte ich mir nicht verkneifen anzumerken, während Du langsam den
Brief aus dem Umschlag befördertest. Rasch überflogen Deine Augen die wenigen
Zeilen, die noch immer in Gedichtform angeordnet waren. Dein Lächeln schwand
und eine ungekannte Blässe überzog Dein Gesicht, als Du mir endlich den Zettel
hinhieltst.
„Ich habe es
geahnt“, sagte ich leise, nachdem ich die wenigen Zeilen überflogen hatte, „Ich
denke, es wird Zeit dem ein Ende zu bereiten.“
„Aber warum ist
er denn plötzlich so gemein zu mir?“, fragtest Du ratlos.
„Weil er Dich für
jemanden hält, der Du nicht bist. Offenbar liebt er diese andere Person, doch
sie hat ihn enttäuscht. Vielleicht ist sie auch nur eine Fiktion, aber da ist
eine offene Drohung drinnen. Ich werde das nicht einfach hinnehmen. Ich habe
gesagt, dass ich Dich beschütze, und das tue ich“, entgegnete ich überzeugt.
„Was hast Du vor?“,
fragtest Du bang.
„Mach Dir keine
Sorgen und misch Dich nicht ein. Verbrenn den Brief am besten im Kamin“, schlug
ich vor, „Und lass mich einfach tun, was ich zu tun habe.“
Niemand darf
meiner kleinen, süßen Schwester wehtun.
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