0602 Anonym (Teil 3):


Umschwung


Der zweite anonyme Brief, die gleiche Handschrift. Es war wohl vom selben Verfasser auszugehen. Allerdings, es wurden so wenig Briefe mehr geschrieben, und unter diesen musste wohl der Anteil der anonymen verschwindend sein. Daraus schloss ich, dass es wohl beinahe unmöglich war von zwei verschiedenen Verfassern innerhalb von drei Tagen einen anonymen Brief zu erhalten. Vielleicht hattest Du recht, und ich las tatsächlich zu viel, aber in all den Geschichten, die ich kannte, waren anonyme Briefe immer ein Vorspiel für eine große Tragödie. Wäre es denn denkbar, dass ein anonymer Wohltäter die Lebensumstände seiner Adressaten auskundschaftete, um sie dann mit motivierenden, aufbauenden, anteilnehmenden Botschaften zu versorgen?

Der Hund der Frau, die im obersten Stockwerk wohnte, war überfahren worden. Niemand kümmerte sich darum, weil sie mit niemandem sprach, aber am nächsten Tag war da ein anonymer Brief, der wie folgt lautete:

„Liebe Frau K.!

Anhänglich und treu ist der Hund als Gefährte des Menschen. Gestern wurde ihr Hund überfahren. Ich kann Ihren tiefen Schmerz nachvollziehen. Allein und einsam bleiben Sie zurück, doch Sie können einem anderen Lebewesen helfen. Unten am Fluss wurden zwei Welpen ausgesetzt. In Gedenken an Ihren Struppi, nehmen Sie sich ihrer an.

Mein herzlichstes Beileid,
ein Freund.“

Und die Frau würde zum Fluss gehen und die Welpen finden und sich ihrer annehmen. Sie hätte wieder eine Aufgabe und würde den Verlust von Struppi verwinden. Darüber hinaus würden sich noch die Nachbarskinder mit ihr anfreunden. Die Eltern würden entdecken, dass Frau K. keine Hexe wäre, sondern gut als Leihomi geeignet und und und

Es wäre eine positive Geschichte, aber wie grässlich. Nein, so etwas gibt es nicht. Wenn jemand schon so viel Energie investiert, dann in nichts Gutes. Die Motivation seinen Mitmenschen Böses anzutun ist weitaus größer als das Gegenteil. Ich durfte mir da nichts vormachen. Natürlich könnte man darüber nachdenken was alles Positives geschehen könnte, würden diese Kräfte anderweitig eingesetzt, aber es war ein müßiger Gedankengang, denn das würde nur passieren, wenn der Mensch nicht mehr der Mensch wäre, der er war.

„Also, was steht in Deinem Brief?“, fragte ich ruhig.
„Ich weiß es noch nicht. Ich musste doch zuerst Deinen Brieföffner holen“, sagtest Du lächelnd, und tatsächlich konnte ich beobachten, wie Du den Brieföffner sorgfältig anwendetest.
„So ist es viel besser“, konnte ich mir nicht verkneifen anzumerken, während Du langsam den Brief aus dem Umschlag befördertest. Rasch überflogen Deine Augen die wenigen Zeilen, die noch immer in Gedichtform angeordnet waren. Dein Lächeln schwand und eine ungekannte Blässe überzog Dein Gesicht, als Du mir endlich den Zettel hinhieltst.
„Ich habe es geahnt“, sagte ich leise, nachdem ich die wenigen Zeilen überflogen hatte, „Ich denke, es wird Zeit dem ein Ende zu bereiten.“
„Aber warum ist er denn plötzlich so gemein zu mir?“, fragtest Du ratlos.
„Weil er Dich für jemanden hält, der Du nicht bist. Offenbar liebt er diese andere Person, doch sie hat ihn enttäuscht. Vielleicht ist sie auch nur eine Fiktion, aber da ist eine offene Drohung drinnen. Ich werde das nicht einfach hinnehmen. Ich habe gesagt, dass ich Dich beschütze, und das tue ich“, entgegnete ich überzeugt.
„Was hast Du vor?“, fragtest Du bang.
„Mach Dir keine Sorgen und misch Dich nicht ein. Verbrenn den Brief am besten im Kamin“, schlug ich vor, „Und lass mich einfach tun, was ich zu tun habe.“

Niemand darf meiner kleinen, süßen Schwester wehtun.

Keine Kommentare: