1102 Anonym (Teil 5):


Wiedersehen


Der 11. November vor zehn Jahren, und doch durchströmte mich die selbe Wärme, die ich damals in seiner Gegenwart verspürt hatte. Das durfte nicht sein. Aber dann sah ich, dass die Sonne gerade unterging, die Nacht sich ankündigte. Es war die Zeit, zu der ich besonders zugänglich war für emotionale Schwingungen. Ich schon es darauf, um nicht eingestehen zu müssen, dass er mich noch immer anrührte. Eigentlich sollte ich nicht Wärme verspüren, sondern sauer sein. „Warum hast Du mich damals einfach so sitzen gelassen?“, hätte ich fragen können, doch ich wollte doch so tun, als wäre es mir egal. Und wozu auch noch fragen? Wozu in alten Wunden wühlen? Ich kannte ja den Grund. Er war schlicht und einfach feig gewesen.  Letztendlich hatte eine andere Frau mehr Einfluss auf ihn gehabt als ich, seine Mutter. Bitterkeit sollte sich eigentlich in mir ausbreiten, aber es gelang mir nicht. Was blieb war nur die Wärme?

An der Bushaltestelle wollten wir uns treffen um miteinander durchzubrennen. Ich war so aufgeregt, dass ich zwei Stunden zu früh dort war. Still saß ich in der hinteren Ecke des Wartehäuschens, den Skizzenblock in der Hand. Ich wartete gerne, und während meine Hand mit dem Stift in der Hand über das Papier strich, stellte ich mir unser zukünftiges Leben vor. Natürlich, es würde nicht einfach werden, aber wir waren jung und mutig. Das Leben lag vor uns wie ein unberührtes Feld, das nur darauf wartete von uns bearbeitet zu werden, so dass die herrlichsten Früchte wachsen würden. Ich hatte niemanden mehr, der auf meine Entscheidung hätte Einfluss nehmen können, außer Marlies, doch ich redete mir ein, sie sei in guten Händen, jetzt, da unsere Eltern nicht mehr da waren. Doch Martin, er hatte zu kämpfen. Seine Mutter war gegen unsere Verbindung. Zu düster, zu extravagant war ich für sie. Damit hatte sie natürlich recht, aber qualifizierte mich das automatisch zu einer ungeeigneten Gefährtin für ihren Sohn? Alles war vorbereitet. Die Papiere waren vollständig, so dass wir sofort heiraten könnten. Ich ertappte mich dabei, dass mir fast ein Lächeln ausgekommen wäre bei dem Gedanken daran wie zuvorkommend er mich behandelt hatte. „Es sollte alles seine Ordnung haben, und ich möchte, dass Du weißt, dass ich immer zu Dir stehe. Wir gehören zusammen“, das waren seine Worte, und dann kam der verabredete Zeitpunkt, doch wer nicht kam war Martin. Ich wartete. Es begann zu regnen. Wilde Blitze zuckten über den Himmel, doch ich wartete. Erst als der Morgen graute stieg ich in den Bus und fuhr weg um einen anderen zu heiraten. Weit weg wollte ich. Niemals wieder würde ich zurückkommen, mir niemals wieder weh tun lassen, das war mein Plan, und zehn Jahre hatte ich es geschafft.

„Was machst Du denn hier?“, fragte Martin verdutzt.
„Ich wohne hier“, gab ich lapidar zurück, „Und Du, was machst Du hier?“
„Ich wollte eigentlich zu Marlene“, entgegnete er, immer noch verwirrt.
„Marlene ist meine Schwester“, erwiderte ich kühl.
„Aber das kann doch nicht sein. Das ist doch nicht wahr“, murmelte er vor sich hin, als Du endlich kamst und Martin umarmtest. Er jedoch , er erwiderte die herzliche Begrüßung nicht. Irritiert sahst Du zuerst ihn, dann mich an.
„Kennt ihr euch etwa?“, fragtest Du stirnrunzelnd, doch wie auf ein geheimes Zeichen hin, verneinten wir beide. Du schienst nicht restlos überzeugt, aber Du warst nicht der Mensch, der sich lange Gedanken über etwas machte.
„Na, dann wollen wir aufbrechen“, sagtest Du, voll unverhohlener Fröhlichkeit.
„Ich wünsche Euch viel Spaß!“, hörte ich mich noch erwidern. Dann fiel die Türe ins Schloss. Langsam ging ich zurück ins Wohnzimmer und ließ mich auf die Couch fallen.
„Warum nur hast Du mir das angetan, meine eigene Schwester?“, fragte ich mich, „Aber nein, Du hast es nicht gewusst, konntest es nicht wissen.“

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