Wiedersehen
Der 11. November
vor zehn Jahren, und doch durchströmte mich die selbe Wärme, die ich damals in
seiner Gegenwart verspürt hatte. Das durfte nicht sein. Aber dann sah ich, dass
die Sonne gerade unterging, die Nacht sich ankündigte. Es war die Zeit, zu der
ich besonders zugänglich war für emotionale Schwingungen. Ich schon es darauf,
um nicht eingestehen zu müssen, dass er mich noch immer anrührte. Eigentlich
sollte ich nicht Wärme verspüren, sondern sauer sein. „Warum hast Du mich damals
einfach so sitzen gelassen?“, hätte ich fragen können, doch ich wollte doch so
tun, als wäre es mir egal. Und wozu auch noch fragen? Wozu in alten Wunden
wühlen? Ich kannte ja den Grund. Er war schlicht und einfach feig gewesen. Letztendlich hatte eine andere Frau mehr Einfluss
auf ihn gehabt als ich, seine Mutter. Bitterkeit sollte sich eigentlich in mir
ausbreiten, aber es gelang mir nicht. Was blieb war nur die Wärme?
An der
Bushaltestelle wollten wir uns treffen um miteinander durchzubrennen. Ich war so
aufgeregt, dass ich zwei Stunden zu früh dort war. Still saß ich in der
hinteren Ecke des Wartehäuschens, den Skizzenblock in der Hand. Ich wartete
gerne, und während meine Hand mit dem Stift in der Hand über das Papier strich,
stellte ich mir unser zukünftiges Leben vor. Natürlich, es würde nicht einfach
werden, aber wir waren jung und mutig. Das Leben lag vor uns wie ein
unberührtes Feld, das nur darauf wartete von uns bearbeitet zu werden, so dass
die herrlichsten Früchte wachsen würden. Ich hatte niemanden mehr, der auf
meine Entscheidung hätte Einfluss nehmen können, außer Marlies, doch ich redete
mir ein, sie sei in guten Händen, jetzt, da unsere Eltern nicht mehr da waren.
Doch Martin, er hatte zu kämpfen. Seine Mutter war gegen unsere Verbindung. Zu
düster, zu extravagant war ich für sie. Damit hatte sie natürlich recht, aber
qualifizierte mich das automatisch zu einer ungeeigneten Gefährtin für ihren
Sohn? Alles war vorbereitet. Die Papiere waren vollständig, so dass wir sofort
heiraten könnten. Ich ertappte mich dabei, dass mir fast ein Lächeln
ausgekommen wäre bei dem Gedanken daran wie zuvorkommend er mich behandelt
hatte. „Es sollte alles seine Ordnung haben, und ich möchte, dass Du weißt,
dass ich immer zu Dir stehe. Wir gehören zusammen“, das waren seine Worte, und
dann kam der verabredete Zeitpunkt, doch wer nicht kam war Martin. Ich wartete.
Es begann zu regnen. Wilde Blitze zuckten über den Himmel, doch ich wartete.
Erst als der Morgen graute stieg ich in den Bus und fuhr weg um einen anderen
zu heiraten. Weit weg wollte ich. Niemals wieder würde ich zurückkommen, mir
niemals wieder weh tun lassen, das war mein Plan, und zehn Jahre hatte ich es
geschafft.
„Was machst Du
denn hier?“, fragte Martin verdutzt.
„Ich wohne hier“,
gab ich lapidar zurück, „Und Du, was machst Du hier?“
„Ich wollte
eigentlich zu Marlene“, entgegnete er, immer noch verwirrt.
„Marlene ist
meine Schwester“, erwiderte ich kühl.
„Aber das kann
doch nicht sein. Das ist doch nicht wahr“, murmelte er vor sich hin, als Du
endlich kamst und Martin umarmtest. Er jedoch , er erwiderte die herzliche
Begrüßung nicht. Irritiert sahst Du zuerst ihn, dann mich an.
„Kennt ihr euch
etwa?“, fragtest Du stirnrunzelnd, doch wie auf ein geheimes Zeichen hin,
verneinten wir beide. Du schienst nicht restlos überzeugt, aber Du warst nicht
der Mensch, der sich lange Gedanken über etwas machte.
„Na, dann wollen
wir aufbrechen“, sagtest Du, voll unverhohlener Fröhlichkeit.
„Ich wünsche Euch
viel Spaß!“, hörte ich mich noch erwidern. Dann fiel die Türe ins Schloss.
Langsam ging ich zurück ins Wohnzimmer und ließ mich auf die Couch fallen.
„Warum nur hast
Du mir das angetan, meine eigene Schwester?“, fragte ich mich, „Aber nein, Du
hast es nicht gewusst, konntest es nicht wissen.“
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