1202 Anonym (Teil 6):


Auf gute Nachbarschaft


Ich saß auf der Couch und ließ die Nacht hereinbrechen. Auch wenn mir nichts anderes übrig blieb, so tat ich zumindest so als ob, denn wenn man sich auf die Seite eines unausweichlichen Geschehens stellt, so kann man sich noch immer als aktiv bezeichnen. Starr sah ich aus dem Fenster vor mir. Nichts denken, bloß nichts denken, denn meine Gedanken zogen sich bedrohlich um einen Punkt zusammen, wie eine Gewitterwolke.
„Ist ja alles gut, Babu“, sagte ich leise und beschwichtigend, als sich mein kleiner schwarzer Hund zu mir legte, den Schnauze auf meine Oberschenkel bettend. Doch wem wollte ich etwas vormachen. Einem Menschen, da war es leicht so zu tun als ob, doch dieser kleine Hund, dem konnte ich nichts vormachen. Er ließ mich reden und machte sich doch nichts aus meinen Worten, die meinem Gemütszustand so sehr zu wider liefen. Da klopfte es abermals an der Türe.
„Hast Du was vergessen, Marlies?“, fragte ich, während ich die Türe öffnete, doch da stand nicht Marlies, sondern mein eigenes Spiegelbild. Ich wusste nicht ob ich meinen Augen trauen konnte. Babu, der mich zur Türe begleitet hatte, musste es ähnlich ergehen, denn neben der Frau, die genauso angezogen war wie ich, die gleiche Frisur hatte und sogar die obligatorischen Handschuhe trug, stand ein schwarzer Hund, der Babu zum Verwechseln ähnlich sah. Ruhig und vorsichtig beschnüffelten sich die beiden. Zumindest die Hunde waren sich schnell einig und trollten sich in den Garten.
„Guten Abend, Frau O’Fallon!“, grüßte sie höflich.
„Guten Abend, Frau ....“, kam es stotternd, „Es tut mir leid, aber ich kenne Ihren Namen nicht.“
„O’Neill, Clara O’Neill“, half sie mir aus, „Ich bin Ihre neue Nachbarin von gegenüber.“
Automatisch folgte mein Blick der Richtung, in die ihr Finger wies, doch da war nur ein Hügel. Wobei das mit der Nachbarschaft in diesem kleinen Ort im Waldviertel ein dehnbarer Begriff war, denn die wenigen Häuser standen weit voneinander entfernt, getrennt durch das, was hier noch im Überfluss vorhanden war, Platz. Äcker und Felder, Wiesen und Wälder, das war es, was hier das Landschaftsbild bestimmte. Dazwischen wirkten die einzelnen Häuser und Höfe wie verloren.
„Ich wusste gar nicht ...“, murmelte ich sinnend.
„... dass jemand eingezogen ist. Ja, das ist auch nicht schwer“, sagte die Unbekannte ernst, „Obwohl, eigentlich kann man hier nichts geheimhalten. Irgendjemand sieht immer irgendwas und trägt es ins Wirtshaus. So sind die Menschen.“
„Ja, im Wirtshaus, da hätte ich es erfahren können, wenn ich denn hinginge“, sagte ich kryptisch, „Sie sind Irin? Oder haben Sie auch bloß einen Iren geheiratet?“
„Nein, ich bin Irin“, entgegnete sie, „Aber bis auf das, dass es hier kälter ist als in der Heimat, fühlt man sich doch gut aufgehoben, von der Weite und der Ruhe.“
„Wenn man das will“, merkte ich an, als mir endlich auffiel wie unhöflich ich erscheinen musste, „Wollen Sie vielleicht herein kommen? Auf einen Tee oder einen Whiskey oder beides?“
„Oder beides klingt gut“, nahm sie meine Einladung an und folgte mir ins Wohnzimmer, wo ich ihr einen Platz auf der Couch anzubieten, während ich in die Küche ging um den Tee zuzubereiten.
„Das duftet aber herrlich“, sagte sie höflich.
„Ich trinke sehr gerne Tee, aber zumeist alleine“, entgegnete ich, „Möchten Sie Zucker?“
„Ach ja, gerne“, antwortete die neue Nachbarin.
„Ich merke gerade, ich habe den Zucker vergessen“, sagte ich, verärgert über meine eigne Vergesslichkeit, und ging um den Zucker zu holen. Kurz darauf war ich wieder im Wohnzimmer, „Hier bitte!“, sagte ich, und reichte ihr den Zucker. „Wann sagten Sie, sind Sie hierher gezogen?“
„Ich hatte noch gar nichts gesagt“, entgegnete Clara O’Neill, „Vor sechs Monaten, kurz bevor Ihr Mann starb. Sie müssen wissen, ich kannte ihn. Sie haben ihn mir weggenommen. Nichts haben Sie gemerkt, und nun, wo Sie es wissen, müssen Sie es für sich behalten.“
„Natürlich“, bestätigte ich irritiert. Das war nicht schwer, schließlich wusste ich niemanden, dem ich es hätte erzählen können.
„Ich bin mir sicher, dass Sie niemandem mehr etwas erzählen werden“, merkte Clara O’Neill an, während mir schwarz vor Augen wurde. War da was im Tee gewesen?

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