1302 Anonym (Teil 7):


So vieles kann geschehen



Du warst nicht nach Hause gekommen, die ganze Nacht warst Du nicht nach Hause gekommen. Ich war zu Bett gegangen. Seltsam, der Hund der Nachbarin war hiergeblieben. Ich fand die beiden, nahe beieinander, schlafend. Sie hatten sich offenbar müde gespielt, so müde, dass sie nicht einmal mehr Hunger verspürt hatten. Morgen würde ich ihn zurückbringen, dachte ich. Als ich am Vormittag aufstand warst Du immer noch nicht da, aber Du warst jung und tatendurstig. Ich dachte mir nicht viel dabei. Erst am frühen Nachmittag, als es an der Haustüre klopfte, dachte ich zunächst, Du wärst es. Aber warum klopftest Du? Du hattest wahrscheinlich bloß Deinen Schlüssel vergessen, doch da stand ein Mann vor der Türe, ein großer, starker Mann. Schwerfällig wirkte er.
„Frau O’Fallen?“, sagte er, und sah mich fragend an.
„Ja, die bin ich“, bestätigte ich. Nicht mehr. Sah ihn an, wartend.
„Chefinspektor Max Krämer. Darf ich reinkommen?“, fragte er, während er mir seine Dienstmarke zeigte. Es würde wohl seine Ordnung haben, war ich überzeugt. Doch hätte ich eine gefälschte Dienstmarke überhaupt als solche erkannt. Ach was, rief ich mich selbst zur Ordnung, sowas gibt es doch nur in schlechten Kriminalromanen.
„Setzen Sie sich bitte“, bot ich dem Chefinspektor an, und er kam meiner Aufforderung nach.
„Ich möchte nicht um den heißen Brei herum reden“, begann er zu berichten, „Ihre Schwester, Marlies Merkado, ist  heute Nacht ermordet worden.“
Ein kurzer Satz, aber ich war wie betäubt.
„Das ist doch nicht möglich ... Wer sollte denn ... Wer hätte denn ... Was ist passiert?“, stammelte ich, unzusammenhängend, verdattert.
„Es ist ganz eindeutig. Ich muss Sie nun bitten mir zu sagen wo Sie letzte Nacht gewesen sind“, fuhr Chefinspektor Krämer ruhig fort.
„Ich war hier“, antwortete ich kurz und tonlos.
„Kann das jemand bezeugen?“, fragte er weiter.
„Sie meinen außer dem Hund?“, bemerkte ich sarkastisch, „Nein, ich fürchte nicht.“
„Kam niemand vorbei oder auf Besuch?“, bohrte er unbeirrt weiter.
„Die Nachbarin, ja, die Nachbarin mit ihrem Hund, die war einen Sprung da mit mir Tee zu trinken“, fiel mir ein, „Und sie hat ihren Hund vergessen.“
Als wenn sie auf ihr Stichwort gewartet hatten, kamen plötzlich zwei kleine schwarze Hunde ins Wohnzimmer und auf mich zugestürmt.
„Das ist also Ihr Hund und der der Nachbarin?“, fragte der Chefinspektor.
„Ja, sieht sehr nach Hund aus“, bemerkte ich trocken.
„Ihr Sarkasmus wird Ihnen schon noch vergehen“, meinte der Chefinspektor, „Sie stehen immerhin unter Mordverdacht!“
„Was heißt ich stehe unter Mordverdacht? Sie glauben doch nicht im Ernst, ich hätte meine eigene Schwester ermordet?“, erwiderte ich ungläubig.
„Doch, das glauben wir. Sie wurde mit Ihrer Haarnadel erstochen und Sie haben kein Alibi“, erklärte mir Chefinspektor Krämer kurz.
„Und was ist mit dem Motiv? Was hätte ich für ein Motiv gehabt?“, fragte ich, krimigeschult wie ich war.
„Eifersucht! Ein klassisches Motiv“, kam es postwendend zurück, während er mich ganz genau beobachtete, „Oder wollen Sie bestreiten, dass Martin Rosenzweig vor einigen Jahren mit Ihnen sehr gut befreundet war?“
„Sehr gut befreundet ist vielleicht ein Euphemismus“, erklärte ich lakonisch, „Doch Sie sagen es selbst, das ist Jahre her. Ich war lange fort. Zehn Jahre habe ich in Irland gelebt. Gestern abend sah ich ihn zum ersten Mal seit ich fortging.“
„Was macht das schon“, sagte Chefinspektor Krämer ruhig, „Zeit hat nichts zu sagen. Manchmal festigt sie auch Gefühle, besonders, wenn sie sehr stark sind. Wann genau war die Nachbarin da?
„Ich weiß es nicht. Ich habe keine Uhr im Haus und weiß nie wie spät es ist“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „Es war schon dunkel.“
„Nun, dann werden wir mit der Nachbarin reden. In der Zwischenzeit muss ich Sie bitten das Haus nicht zu verlassen.“
Und er ging. Und ich war allein. Zuerst mein Vater, dann meine Mutter, dann mein Mann und jetzt auch noch meine Schwester. Ich war inmitten der Dunkelheit.

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