So vieles kann geschehen
Du warst nicht
nach Hause gekommen, die ganze Nacht warst Du nicht nach Hause gekommen. Ich war
zu Bett gegangen. Seltsam, der Hund der Nachbarin war hiergeblieben. Ich fand
die beiden, nahe beieinander, schlafend. Sie hatten sich offenbar müde
gespielt, so müde, dass sie nicht einmal mehr Hunger verspürt hatten. Morgen
würde ich ihn zurückbringen, dachte ich. Als ich am Vormittag aufstand warst Du
immer noch nicht da, aber Du warst jung und tatendurstig. Ich dachte mir nicht
viel dabei. Erst am frühen Nachmittag, als es an der Haustüre klopfte, dachte
ich zunächst, Du wärst es. Aber warum klopftest Du? Du hattest wahrscheinlich
bloß Deinen Schlüssel vergessen, doch da stand ein Mann vor der Türe, ein
großer, starker Mann. Schwerfällig wirkte er.
„Frau O’Fallen?“,
sagte er, und sah mich fragend an.
„Ja, die bin
ich“, bestätigte ich. Nicht mehr. Sah ihn an, wartend.
„Chefinspektor
Max Krämer. Darf ich reinkommen?“, fragte er, während er mir seine Dienstmarke
zeigte. Es würde wohl seine Ordnung haben, war ich überzeugt. Doch hätte ich
eine gefälschte Dienstmarke überhaupt als solche erkannt. Ach was, rief ich
mich selbst zur Ordnung, sowas gibt es doch nur in schlechten Kriminalromanen.
„Setzen Sie sich
bitte“, bot ich dem Chefinspektor an, und er kam meiner Aufforderung nach.
„Ich möchte nicht
um den heißen Brei herum reden“, begann er zu berichten, „Ihre Schwester,
Marlies Merkado, ist heute Nacht
ermordet worden.“
Ein kurzer Satz,
aber ich war wie betäubt.
„Das ist doch
nicht möglich ... Wer sollte denn ... Wer hätte denn ... Was ist passiert?“,
stammelte ich, unzusammenhängend, verdattert.
„Es ist ganz eindeutig.
Ich muss Sie nun bitten mir zu sagen wo Sie letzte Nacht gewesen sind“, fuhr Chefinspektor
Krämer ruhig fort.
„Ich war hier“,
antwortete ich kurz und tonlos.
„Kann das jemand
bezeugen?“, fragte er weiter.
„Sie meinen außer
dem Hund?“, bemerkte ich sarkastisch, „Nein, ich fürchte nicht.“
„Kam niemand
vorbei oder auf Besuch?“, bohrte er unbeirrt weiter.
„Die Nachbarin,
ja, die Nachbarin mit ihrem Hund, die war einen Sprung da mit mir Tee zu
trinken“, fiel mir ein, „Und sie hat ihren Hund vergessen.“
Als wenn sie auf
ihr Stichwort gewartet hatten, kamen plötzlich zwei kleine schwarze Hunde ins
Wohnzimmer und auf mich zugestürmt.
„Das ist also Ihr
Hund und der der Nachbarin?“, fragte der Chefinspektor.
„Ja, sieht sehr
nach Hund aus“, bemerkte ich trocken.
„Ihr Sarkasmus
wird Ihnen schon noch vergehen“, meinte der Chefinspektor, „Sie stehen immerhin
unter Mordverdacht!“
„Was heißt ich
stehe unter Mordverdacht? Sie glauben doch nicht im Ernst, ich hätte meine
eigene Schwester ermordet?“, erwiderte ich ungläubig.
„Doch, das
glauben wir. Sie wurde mit Ihrer Haarnadel erstochen und Sie haben kein Alibi“,
erklärte mir Chefinspektor Krämer kurz.
„Und was ist mit
dem Motiv? Was hätte ich für ein Motiv gehabt?“, fragte ich, krimigeschult wie
ich war.
„Eifersucht! Ein
klassisches Motiv“, kam es postwendend zurück, während er mich ganz genau
beobachtete, „Oder wollen Sie bestreiten, dass Martin Rosenzweig vor einigen
Jahren mit Ihnen sehr gut befreundet war?“
„Sehr gut
befreundet ist vielleicht ein Euphemismus“, erklärte ich lakonisch, „Doch Sie
sagen es selbst, das ist Jahre her. Ich war lange fort. Zehn Jahre habe ich in
Irland gelebt. Gestern abend sah ich ihn zum ersten Mal seit ich fortging.“
„Was macht das
schon“, sagte Chefinspektor Krämer ruhig, „Zeit hat nichts zu sagen. Manchmal
festigt sie auch Gefühle, besonders, wenn sie sehr stark sind. Wann genau war
die Nachbarin da?
„Ich weiß es
nicht. Ich habe keine Uhr im Haus und weiß nie wie spät es ist“, antwortete ich
wahrheitsgemäß, „Es war schon dunkel.“
„Nun, dann werden
wir mit der Nachbarin reden. In der Zwischenzeit muss ich Sie bitten das Haus
nicht zu verlassen.“
Und er ging. Und
ich war allein. Zuerst mein Vater, dann meine Mutter, dann mein Mann und jetzt
auch noch meine Schwester. Ich war inmitten der Dunkelheit.
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