2602 Anonym (Teil 14):


Besessenheit


Dr. Leopold Rein, Psychiater und eigentlich diensttuender Arzt im Sanatorium am Montag, saß zusammengekauert in seiner Wohnung. Seit er wusste, dass Marlies tot war konnte er nicht mehr denken, nicht mehr reden, nichts mehr tun. Dr. Valentina del Gardo hatte deshalb seinen Dienst übernommen. Seit Jahren waren sie ein Paar. Alles lief wunderbar, bis diese Frau auftauchte, diese grässlich hübsche, lebenslustige Frau. Sie waren gemeinsam bei ihrer Vorstellung gewesen. Kein Wort hatte Leopold gesagt, aber Valentina wusste, dass in seinem Kopf keine andere Frau, ja kein anderer Mensch mehr existierte als diese Marlene. Seitdem vernachlässigte er sich und alle Menschen um ihn, zuletzt auch seine Arbeit. Valentina hielt die Fassade so gut es ging aufrecht, übernahm Dienste und erklärte mit Überzeugung, dass er krank war. Er war es auch. Dieser sonst so ernste Mann, der seine Gefühle stets an der kurzen Leine hielt, war von diesem Eindruck überrollt worden wie ein Tsunami. Hilflos sah sie ihn dem ausgeliefert. Da war nichts, was sie für ihn tun konnte. Er verbrachte seine Zeit damit alle Informationen über sie zu sammeln, derer er habhaft wurde. Doch dann war das nicht mehr genug und er begann sie zu verfolgen. Bald wusste er alles über sie. Da schrieb er den ersten Brief, der so voller Hoffnung und Sehnsucht war, so voller ungelebter und nun auch ungezügelter Leidenschaft. Kurz danach musste er feststellen, dass sich ein Mann in Marlenes Leben gedrängt hatte und nun den Platz einnahm, an dem er sich gesehen hatte. Daraufhin schrieb er den zweiten Brief, der so voller Trauer und ungelebter und nun auch ungezügelter Aggressionen war. Aber jetzt wo Marlies tot war, jetzt musste man annehmen, dass er zum Kreis der Verdächtigen gehörte. Es war eigentlich nur mehr eine Frage der Zeit, dass die Polizei bei ihm auftauchen würde. Sicherheitshalber hatte er ein Spritze in der Nachttischlade liegen. Sie würden ihn nicht lebend finden. Da klopfte es an der Türe. Das mussten sie sein, dachte er. Wie in Trance ging er in Schlafzimmer. Sekunden später brach er tot zusammen. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Valentina betrat die Wohnung. Alles war still. Instinktiv wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Rasch suchte sie die ganze Wohnung ab, und fand ihn tot am Boden liegen. Da war nichts mehr zu machen. Am ganzen Leib zitternd setzte sie sich auf die Bettkante. Es war ihm nicht mehr zu helfen, vorher als er lebte genauso wenig wie jetzt. Seine Besessenheit war schon zum Wahn gediehen. Dabei war der Wahn sein Spezialgebiet gewesen. Etliche Artikel und zwei Bücher hatte er zu diesem Thema veröffentlicht, doch trotz allem, sich selbst konnte er nicht heilen. Hätte er es je über sich gebracht einen Kollegen aufzusuchen? Ein Psychiater, der einen Psychiater aufsucht, weil er mit seinem Leben nicht zurechtkommt, mit seinem Leben und mit sich selbst? Völlig unvorstellbar. So blieb ihm wohl nur dieser Ausweg. Vielleicht hätte er nur ein paar Wochen noch überstehen müssen, und dann hätte sich der Wahn verloren. Vielleicht hätte er einfach nur das Gespräch mit der Schwester suchen müssen, die ihm glaubhaft versichert hätte, dass Marlene nur ein ganz normaler Mensch war. Vielleicht hätte er sie einfach kennenlernen müssen, damit er es selbst merkte, doch leider war es dazu nicht gekommen. Er war in dem Glauben gestorben, dass Marlene ein Engel war oder ein Dämon. Seine Besessenheit sprach eher für Zweiteres. Als die Polizei ihn fand war der Fall eindeutig. Am Selbstmord gab es keinen Zweifel. Niemals wurde irgendeine Verbindung zwischen Marlene und Dr. Leopold Rein hergestellt. Niemals wurde er verdächtigt, doch das tat auch nichts mehr zur Sache. Romeo und Julia waren tot, wobei nur Romeo gewusst hatte, dass er es war. Seine Julia hatte er niemals eingeweiht. Dr. Valentina del Gardo verließ die Wohnung und betrat sie nie wieder. Sie nahm sich ein kleines Zimmer und kümmerte sich aufopfernd um ihre Patienten, ganz besonders um eine Patientin. Und wenn sie nicht Dienst hatte schrieb sie lange Briefe an diese Patientin. Die kamen dann zu dem Stapel der anderen hinzu.

Keine Kommentare: