2002 Anonym (Teil 11):


Wenn ich es gewusst hätte ...


„Nun, ich muss gestehen, Sie sind unsere Hauptverdächtige“, gab Chefinspektor Krämer unumwunden zu, während er wieder mal in einer Kaffeetasse rührte, einen kleinen braunen Hund an seiner Seite.
„Und wie sieht mein Motiv aus, Herr Chefinspektor“, sagte ich gedehnt, während ich mich noch tiefer in die Couch grub. Es langweilte mich. Meine Schwester war tot. Es änderte nur, dass ich nicht mehr für sie mitdenken musste. An meinem Leben, an seinen Abläufen, an den Erfordernissen, änderte es nichts. Natürlich war es ein großer Verlust für mich. Ich liebte meine Schwester, so wie man das eben zu tun pflegt unter Schwestern, zumal dann, wenn der Altersunterschied so groß ist. Man kommt sich nicht so leicht ins Gehege. Die kleine sieht die große Schwester als Vorbild, und die große kann die kleine bemuttern. Das bedeutet allerdings nicht viele Berührungspunkte. Sie leben für sich und plaudern ein wenig. Es ist so leicht zu lieben, wenn man sich gegenseitig nichts anhaben kann.
„Sie sind also vor zehn Jahren nach Irland ausgewandert?“, fragte der Chefinspektor noch einmal.
„Sind wir in der Schule?“, fragte ich leichthin.
„Warum?“, fragte er aufschauend, aber weiterrührend.
„Weil man normalerweise nur in der Schule Fragen gestellt bekommt, bei denen der Fragende die Antwort schon weiß“, erklärte ich ohne großes Interesse.
„Wissen Sie was, Sie erzählen mir einfach Ihre Geschichte und ich frage nicht mehr“, schlug der Chefinspektor vor.
„Es war kalt, es regnete und ich wartete. Martin in und ich wollten miteinander weggehen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Hier wäre uns das nicht möglich gewesen. Doch er kam nicht. Da dachte ich, er hat mich sitzenlassen. So rief ich Conor an. Er hatte einen Verlag in Irland. Gothik, Mystik, lauter solches Zeugs. Aber es verkaufte sich gut. Ich arbeitete schon längere Zeit für ihn. Ich machte Gothik-Comics, Text und Illustration. In den ersten beiden Jahren hatte ich nur schriftlichen Kontakt, aber nachdem alles gut funktionierte brauchten wir uns nicht kennenzulernen. Bald schon war ich sein bestes Pferd im Stall, wie man so salopp formuliert. Zwei Monate zuvor lernte ich ihn dann auf einer Messe in Wien kennen. Er machte mir spontan einen Antrag, weil er meinte, wer gut miteinander arbeiten kann, kann auch gut miteinander leben. Ich lächelte, denn ich war ja gebunden. Er ließ sich nicht beirren und bot mir an, dass ich ihn jederzeit anrufen könne, sollte ich es mir anders überlegt haben. Als mich nun Martin hängenließ dachte ich daran und rief Conor an. Drei Stunden später war ich auf dem Weg nach Irland und am nächsten Tag Mrs. Conor O’Fallon. Zehn Jahre lebten und arbeiteten wir miteinander. Es war ein interessantes Leben. Mehr hatte er mir nie versprochen. Vor ein paar Monaten zogen wir auf seinen Wunsch hierher, doch er war bereits sehr krank und so starb er bald. Dann zog meine Schwester zu mir. Den Rest kennen Sie“, erzählte ich schlicht, als hätte es mit mir nichts zu tun.
„Wann haben Sie erfahren, dass Martin Rosenzweig Sie nicht versetzt hatte?“, fragte der Chefinspektor ungerührt, und stellte mit Befriedigung fest, dass sich Bestürzung in meinen Zügen spiegelte, „Er hatte einen Autounfall, war monatelang ans Bett gefesselt und litt unter partieller Amnesie. Danach hat er Sie ganz verzweifelt gesucht.“
„Das darf nicht wahr sein!“, entfuhr es mir, und meine Stimme klang unangenehm kreischend, doch das war nichts im Vergleich zu dem welchen Lärm der Zusammenbruch in meinem Inneren verursacht. Kurz stahl sich ein hämisches Grinsen durch die Fassade. Oder hatte sich das Chefinspektor Krämer nur eingebildet?

Keine Kommentare: