Stellvertreterleben
Einfach war sie
da. Wie immer. Einfach da. Ich hatte eine Runde um den See gemacht und kam
zurück in mein Wohnzimmer. Das Feuer brannte im Kamin und sie saß auf der Couch
und las. Jedes Mal sitzt sie und liest.
„Warum liest Du
eigentlich immer, wenn Du alleine bist?“, fragte ich sie endlich, weil mich der
Gedanke befremdete, dass man nichts macht als zu lesen, wenn man alleine ist.
Langsam drehte sie das Buch um und legte es mit dem Deckel nach oben,
aufgeschlagen vor sich hin.
„Was sollte ich
sonst tun, wenn ich alleine bin?“, entgegnete sie, und ihr Blick verriet
Interesse.
„Beim Fenster
hinausschauen, die Natur ansehen, das was Dich umgibt. Ich meine, ich lese auch
gerne, aber ab und an lege ich das Buch weg und sehe mich einfach um, und ich
lese auch nicht nur im Zimmer, sondern auch draußen“, versuchte ich zu
erklären, während ich sah, dass ein beinahe mildtätiges Lächeln ihre Lippen
umspielte. Ich will es mal für mich so nennen, denn abschätzig würde es wohl
besser treffen, aber ich war an diesem Tag guter Dinge und verklärte so manches
ins Positive.
„Und sehe ich da
draußen irgendetwas, was nicht in den Büchern steht?“, fragte sie weiter,
„Alles was ich dort draußen sehe oder um mich wahrnehme, das ist natürlich,
unvorbereitet, quasi unkultiviert, aber in meinen Büchern, da ist es ganz genau
beschrieben, eines nach dem anderen. Die Autorin nimmt mich an der Hand und
lässt mich alles Wesentliche sehen. Sie nimmt mir quasi die Arbeit ab mir das
selbst mühsam zu erarbeiten. Der Sonnenuntergang, magisch, geheimnisvoll,
ersteht farbenprächtig vor meinem geistigen Auge. Ein Mensch, der mir begegnet
wird in allen Einzelheiten beschrieben und ich erfahre Dinge, die ich
wahrscheinlich gar nicht bemerkt hätte, wenn ich die Person leibhaftig vor mir
gesehen hätte. Und wenn ich etwas davon vergesse, dann kann ich zurückblättern
und nachsehen wie es sich nun verhielt. Ich kann in meiner eigenen Erinnerung
nicht zurückblättern und das Übersehene zurückholen. In den Büchern ist es fest
und sicher. Meine Wahrnehmung und mein Erleben sind demgegenüber völlig
unzulänglich.“
„Ich mag es
nicht, wenn mir alles weggenommen wird, wenn jede Einzelheit und jedes kleinste
Detail zerschrieben wird. Wenn die Zeilen offen bleiben für meine eigenen
Bilder, dann erst beginnt die Geschichte zu leben und damit mich zu begeistern.
Damit wird sie erst wirklich eine Geschichte, die mich angeht. Ich will atmen
können beim Lesen und nicht von der Autorin erstickt werden“, entgegnete ich
nachdenklich.
„Dafür musst Du
eigene Erfahrungen und Bilder haben. Dafür musst Du Dich umgesehen haben und
Dich beschäftigen“, warf sie ein, „Und das alles erspare ich mir, das alles
lasse ich mir abnehmen von jemanden, der sowieso viel mehr davon versteht als
ich.“
„Dir genügt also
dieses Leben aus zweiter Hand?“, fragte ich nochmals nach um Gewissheit zu
bekommen, „Das Stellvertreterleben, das nie wirklich anstrengt aber auch nicht
nahegeht?“
„Ja, das will
ich. Aber stehe ich damit denn so alleine da?“, fragte sie und musterte mich
eindringlich. Es war ein müder Blick, der verriet, dass ich sie wohl schon zu
sehr gefordert hatte. Leise schloss ich die Türe hinter mir und ging hinaus zum
See. Ich wusste, sie würde das Buch wieder zur Hand nehmen, doch mir war es zu
wenig, wiederzukäuen wie eine Kuh, was jemand anderen gehört, zu wenig
stellvertretend zu lachen und zu weinen, mich zu freuen und den Schmerz zu
fühlen, zu wenig nicht zu sein. Vielleicht gibt es Menschen, denen das genügt,
außer ihr, aber mir war es zu wenig. Ich will betroffen sein und mein Leben
leben, mit allen Unzulänglichkeiten und Versäumnissen, mit all den
Einzigartigkeiten und Eigenerfahrungen. Ich will leben. Ich will sein. Ich will
sagen, ich bin.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen