1903 Vergessen (Teil 1):


Eindrücke


Die Welt wird, weil sie mir wieder klar wird. Noch wird es ein wenig dauern. Noch ist das Bild unscharf. Ich komme langsam zu mir, und die Welt um mich gibt sich auch nicht so einfach preis. Sie passt sich an. Zumindest sie lässt mir Zeit. Dämmrig ist es, dort wo ich bin. Durch die kleinen Schlitze, die sich vor meinen Augen öffnen, erkenne ich zunächst nur dieses Dämmern. „Götterdämmerung“, schießt es mir durch meinen gepeinigten Kopf, „Morgendämmerung“ ist das nächste. Man gibt es bescheiden, wenn es im Kopf hämmert, als hätte einer, der den Presslufthammer bedient, ihn losgelassen und der fuhrwerkt jetzt ungezügelt alleine weiter. Aber zu meiner Erleichterung stelle ich fest, dass auch sämtliche andere Extremitäten schmerzen. Erleichterung, weil ich in meiner Schmerzwahrnehmung nicht so eingeschränkt bin. Kopfschmerzen für sich genommen schränken den Aktionsradius beträchtlich ein, auch wenn der Rest des Körpers völlig schmerzfrei ist, aber wenn alles schmerzt, so drängt es nicht so sehr nach Betätigung. Bedächtig drehe ich ganz leicht den Kopf, gebe der Richtung, die der Presslufthammer gerade nimmt, nach. Eine Frau, ganz in Schwarz sitzt ein wenig rechts von mir auf einen Lehnstuhl und hat ein Buch vor der Nase. Wahrscheinlich liest sie, aber wer kann das schon so genau sagen. Ich erinnere mich, dass ich mir oft ein Buch vor die Nase hielt, damit jeder um mich wusste, dass ich jetzt nicht angesprochen werden wollte. Es war mein Bollwerk gegen die sich aufdrängenden Gedanken und Gefühle anderer. Manchmal ist es notwendig sich ein wenig abzuschotten, doch auch wenn sie nichts sagten, so war es doch ihre bloße Anwesenheit, die mich in ihr Wirrwarr hineinzog, unausweichlich. Mehr noch, auch ihre Abwesenheit war beklemmend, denn in meinem Kopf waren sie niemals abwesend. Ich habe eine Gabe, die mich zwingt. Ich nehme wahr, die Menschen um mich, ganz gleich ob sie mich jetzt persönlich meinen oder nicht. Ich saß beispielsweise in einem Café und ließ den Blick wie zufällig über die Menschen gleiten. Ein einziger Bick, ein einziger vorüberhuschender Blick genügte um mir über alles völlig im Klaren zu sein, Alter, Lebensumstände und innere Regungen. Ich konnte es einfach nicht abstellen. So oft ich konnte versuchte ich dem zu entfliehen, indem ich mich in einen dunklen, fensterlosen Raum zurückzog. Eigentlich war es das Abstellkammerl, aber für mich, war es ein Rückzug. Nicht, dass ich den Menschen in meinem Kopf wirklich entkommen konnte, aber dort drinnen gesellten sich zumindest keine neuen Eindrücke zu den bestehenden hinzu. Es war eine gewisse Erleichterung. So weiß ich auch sofort, dass diese Frau, die neben mir sitzt, nicht liest. Sie hält sich das Buch vor die Nase, während sie darauf wartet, dass ich ein Lebenszeichen von mir gebe. Ich beschließe sie noch ein wenig warten zu lassen, denn ich muss mir erst über ein paar Dinge klar werden, muss mich besinnen wie ich wohl hierherkam. Was war geschehen bevor ich auf dieser Couch landete und der Presslufthammer angeworfen wurde? Ich wollte mich auf Antworten besinnen, die zu Fragen passen könnten, die mir noch nicht einmal gestellt worden waren, aber zweifelsohne gestellt wurden. Die Frau lie0 ihr Buch in den Schoß gleiten. Wem wollte sie auch etwas vormachen? Sie gehörte wohl zu den Menschen, die es nicht fertigbrachten einfach so in einem Stuhl zu sitzen und nichts zu tun, einfach nichts. Wie schwer war es doch, dieses Nichtstun. Aber sie wandte mir den Blick zu. Ich stellte sicher, dass die Lider ganz geschlossen waren. Noch wollte ich nicht offiziell munter sein. Noch wollte ich mir selbst Zeit lassen zu mir zu kommen und mich vor dem Ansturm, der mich zweifelsohne erwartete, zu schützen. Vielleicht hatte sie es gut gemeint, als sie mich aufnahm. Vielleicht sah sie es als ihre Pflicht, als sie mich irgendwo fand, in was weiß ich für einen Zustand, doch sobald der Delinquent erwacht, wird er erbarmungslos ausgequetscht wie eine Zitrone. Und es fällt nicht einmal weiters auf.

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