Was es war ...
„Wo nur ist der
Beginn eines Lebens?“, setze ich an und versuche meine Gedanken zu ordnen, eine
gewisse Chronologie hineinzubekommen, knapp und sachlich. Aber können wir
unserem eigenem Leben wirklich je sachlich gegenüberstehen, es zusammenfassen
auf nüchterne Fakten, ohne das Eigentliche, das Lebendige daran zu negieren?
Was bleibt? Ein paar Jahreszahlen, Daten, Umstände, nichts weiter. Aber was
führte in dieses Leben, durch dieses Leben? Was führte uns? Wissen wir das
selbst? Beginnt unser Leben bei der Geburt oder ist es nicht schon in gewisser
Weise auch immer durch das Leben der anderen, die uns betreffen,
vordeterminiert?
„Ich denke, ich
beginne bei meiner Mutter. Sie ist, oder besser war, eine sehr starke,
ehrgeizige und unabhängige Frau. Das wird wohl auch der Grund gewesen sein
warum uns mein Vater verlassen hat, als ich kaum zwei Jahre alt war. Sie war
Forscherin, genauerhin Mikrobiologin. Von daher habe ich wohl meinen Hang zur
Tüftelei. Interessierte sie sich vor meiner Geburt ausschließlich für ihre
Forschungen, so war ich es, die ihre Aufmerksamkeit zusätzlich in Anspruch
nahm. Mein Vater schien nicht mehr vorhanden, wie ich mir aus ihren Erzählungen
zusammenreimte. Es fiel wohl nicht weiters auf, dass er einfach nicht mehr da
war. Ob sie ihn nur in ihr Leben ließ, weil sie ein Kind wollte oder ihn
wirklich geliebt hatte, das konnte ich nie herausbekommen. Auf jeden Fall hatte
ich eine sehr enge Bindung an meine Mutter, obwohl weit vom pathologischen
entfernt. Ich absolvierte die Schule, studierte anschließend an der Technischen
Universität und trat meinen ersten Arbeitsplatz als normaler Programmierer an.
In diesem Jahr starb meine Mutter. Sie hatte sich mit einem Krankheitskeim
infiziert, versehentlich, wie es hieß. Bis heute kann ich das kaum glauben,
weil sie wirklich eine brillante Wissenschaftlerin war. Solche
Flüchtigkeitsfehler durften ihr nicht passieren. Im gleichen Jahr lernte ich Jasmin
kennen. Kurze Zeit später heirateten wir und zogen zusammen, woran sich bis
heute nichts änderte. Mittlerweile haben wir drei Söhne. Das ist wohl nicht
weiters aufregend, aber dagegen doch mein beruflicher Werdegang. Es war auch
das Jahr, in dem mir der einzige wirklich gravierende Fehler meines Lebens
unterlief. Eigentlich erstaunlich, meine Mutter machte ihren einzigen
gravierenden Fehler ihrer Karriere und musste es mit ihrem Leben büßen. Ich
beging ihn auch und bin nur um Haaresbreite dem gleichen Schicksal entgangen.
Wie gesagt, ich arbeitete als Programmierer. In einer anderen Abteilung dieser
großen Firma arbeitete ein Mann, der wohl schon seit Jahren hier beschäftigt
war und so das uneingeschränkte Vertrauen der Geschäftsleitung gewonnen hatte,
und dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Mann ein doppeltes
Spiel spielte. Ich erkannte es nicht aus seinen Taten, nicht aus seinen Worten,
sondern nur daran, dass seine Worte nicht mit seinem Sein übereinstimmte. Ich
kann es nicht besser beschreiben. Andere würden es wohl eine Ahnung nennen,
doch es war eine abgrundtiefe Diskrepanz zwischen Wesen und Ausdruck. Natürlich
war ich verunsichert. Schließlich hatte er einen guten Ruf, war gut situiert
und hatte auch sonst nichts was rein äußerlich gesehen auf irgendeinen Zwiespalt
hinweisen würde. Ich begann mir selbst zu misstrauen, doch es ließ sich nicht
verleugnen. Umso öfter ich mit ihm zu tun hatte, desto stärker wurde mir der
Widerspruch bewusst. So begann ich insgeheim Ermittlungen anzustellen. Ja, ich
spionierte ihm hinterher, doch einfach dadurch, dass ich seine Tätigkeiten am
Computer verfolgte. Ich brauchte meinen Sessel nicht einmal zu verlassen. Und
da fand ich es. Er verkaufte im großen Stil Daten an ein ausländisches
Konsortium. Alles was ich über den Auftraggeber herausfand war ein
signifikantes Symbol, mehr nicht, aber ich hatte genug gegen ihn in der Hand um
ihn zu überführen. Danach ließ ich den Programmiererjob sein und machte mich
als Fraud-Analyst selbständig. Das mache ich bis heute.“
Ich nehme einen
weiteren Schluck Tee. Mehr gibt es nicht zu sagen, meine ich, oder doch?
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