2703 Vergessen (Teil 6):


Was es war ...


„Wo nur ist der Beginn eines Lebens?“, setze ich an und versuche meine Gedanken zu ordnen, eine gewisse Chronologie hineinzubekommen, knapp und sachlich. Aber können wir unserem eigenem Leben wirklich je sachlich gegenüberstehen, es zusammenfassen auf nüchterne Fakten, ohne das Eigentliche, das Lebendige daran zu negieren? Was bleibt? Ein paar Jahreszahlen, Daten, Umstände, nichts weiter. Aber was führte in dieses Leben, durch dieses Leben? Was führte uns? Wissen wir das selbst? Beginnt unser Leben bei der Geburt oder ist es nicht schon in gewisser Weise auch immer durch das Leben der anderen, die uns betreffen, vordeterminiert?
„Ich denke, ich beginne bei meiner Mutter. Sie ist, oder besser war, eine sehr starke, ehrgeizige und unabhängige Frau. Das wird wohl auch der Grund gewesen sein warum uns mein Vater verlassen hat, als ich kaum zwei Jahre alt war. Sie war Forscherin, genauerhin Mikrobiologin. Von daher habe ich wohl meinen Hang zur Tüftelei. Interessierte sie sich vor meiner Geburt ausschließlich für ihre Forschungen, so war ich es, die ihre Aufmerksamkeit zusätzlich in Anspruch nahm. Mein Vater schien nicht mehr vorhanden, wie ich mir aus ihren Erzählungen zusammenreimte. Es fiel wohl nicht weiters auf, dass er einfach nicht mehr da war. Ob sie ihn nur in ihr Leben ließ, weil sie ein Kind wollte oder ihn wirklich geliebt hatte, das konnte ich nie herausbekommen. Auf jeden Fall hatte ich eine sehr enge Bindung an meine Mutter, obwohl weit vom pathologischen entfernt. Ich absolvierte die Schule, studierte anschließend an der Technischen Universität und trat meinen ersten Arbeitsplatz als normaler Programmierer an. In diesem Jahr starb meine Mutter. Sie hatte sich mit einem Krankheitskeim infiziert, versehentlich, wie es hieß. Bis heute kann ich das kaum glauben, weil sie wirklich eine brillante Wissenschaftlerin war. Solche Flüchtigkeitsfehler durften ihr nicht passieren. Im gleichen Jahr lernte ich Jasmin kennen. Kurze Zeit später heirateten wir und zogen zusammen, woran sich bis heute nichts änderte. Mittlerweile haben wir drei Söhne. Das ist wohl nicht weiters aufregend, aber dagegen doch mein beruflicher Werdegang. Es war auch das Jahr, in dem mir der einzige wirklich gravierende Fehler meines Lebens unterlief. Eigentlich erstaunlich, meine Mutter machte ihren einzigen gravierenden Fehler ihrer Karriere und musste es mit ihrem Leben büßen. Ich beging ihn auch und bin nur um Haaresbreite dem gleichen Schicksal entgangen. Wie gesagt, ich arbeitete als Programmierer. In einer anderen Abteilung dieser großen Firma arbeitete ein Mann, der wohl schon seit Jahren hier beschäftigt war und so das uneingeschränkte Vertrauen der Geschäftsleitung gewonnen hatte, und dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Mann ein doppeltes Spiel spielte. Ich erkannte es nicht aus seinen Taten, nicht aus seinen Worten, sondern nur daran, dass seine Worte nicht mit seinem Sein übereinstimmte. Ich kann es nicht besser beschreiben. Andere würden es wohl eine Ahnung nennen, doch es war eine abgrundtiefe Diskrepanz zwischen Wesen und Ausdruck. Natürlich war ich verunsichert. Schließlich hatte er einen guten Ruf, war gut situiert und hatte auch sonst nichts was rein äußerlich gesehen auf irgendeinen Zwiespalt hinweisen würde. Ich begann mir selbst zu misstrauen, doch es ließ sich nicht verleugnen. Umso öfter ich mit ihm zu tun hatte, desto stärker wurde mir der Widerspruch bewusst. So begann ich insgeheim Ermittlungen anzustellen. Ja, ich spionierte ihm hinterher, doch einfach dadurch, dass ich seine Tätigkeiten am Computer verfolgte. Ich brauchte meinen Sessel nicht einmal zu verlassen. Und da fand ich es. Er verkaufte im großen Stil Daten an ein ausländisches Konsortium. Alles was ich über den Auftraggeber herausfand war ein signifikantes Symbol, mehr nicht, aber ich hatte genug gegen ihn in der Hand um ihn zu überführen. Danach ließ ich den Programmiererjob sein und machte mich als Fraud-Analyst selbständig. Das mache ich bis heute.“
Ich nehme einen weiteren Schluck Tee. Mehr gibt es nicht zu sagen, meine ich, oder doch?

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