Wie ist es, wenn man nicht mehr ist
„Wo soll ich
anfangen?“, überlegt der Mann, der behauptet mein Vater zu sein. Er spürt wohl
meinen Widerstand. Es muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, dass ich ihm am
liebsten ins Gesicht schleudern würde, dass ich ihn all die Jahre nicht
gebraucht hatte, und jetzt erst recht nicht. Niemals war er mir abgegangen,
nicht eine Minute. Ich tue es nicht, vor allem wohl, weil etwas in mir ist, das
weiß, dass es nicht stimmt, dass ich nur versuche mir was vorzumachen, doch das
Wissen ist leise und vergraben, noch. Hat es mir nicht jedes Mal einen Stich
versetzt, wenn ich die anderen Jungen mit ihren Vätern sah? Wenn diese mit vor
Stolz geschwellter Brust ihren Nachwuchs vorführten? Habe ich nicht all das
vermisst, was Jungen mit ihren Vätern machen? Vielleicht war es nur, dass ich
es nicht durfte. Meine Mutter versuchte es so gut wie möglich auszugleichen,
doch es gelang ihr nicht. Niemals habe ich ihr einen Vorwurf gemacht, niemals
mich beklagt, weil ich sie nicht kränken wollte. Lange versuchte ich mir
einzureden, dass ich es mir wohl deshalb so toll vorstellte, weil ich es nicht
hatte, doch der Wunsch ließ sich durch nichts kompensieren. Nicht nur, dass er
nicht da war, dass er uns freiwillig im Stich gelassen hatte, aus Gründen, die
mir reichlich fadenscheinig erscheinen, er hatte auch meine Mutter auf dem
Gewissen. Was will er noch von mir? Die Absolution? Für mich beschließe ich ihm
nicht zu verzeihen, niemals.
„Nun, warum
fängst Du nicht damit an, dass Du Dich abgesetzt hast, weil Du keine
Verantwortung mehr wolltest, ein Leben ohne Verpflichtung und Rücksicht?“,
entgegne ich scharf, obwohl, für mein Empfinden noch immer nicht scharf genug,
denn worauf soll ich Rücksicht nehmen. Auf einen Mann, der mir völlig unbekannt
ist? Wer weiß ob die ganze Geschichte überhaupt wahr ist, „Und vor allem, wer
sagt mir, dass Deine Geschichte stimmt? Wer sagt mir, dass Du nicht einfach ein
Schwindler bist?“
„Wie Du willst.
Dein Lieblingskuscheltier mit fünf war eine grüne Giraffe. Du hast sie Knuffel
genannt. Ich hatte sie Dir zum Geburtstag geschenkt und Deine Mutter musste sie
immer heimlich waschen“, beginnt er etwas unsicher.
„Das stimmt, aber
das kannst Du auch irgendwo gehört haben“, entgegne ich, immer noch voller
Zweifel, „Wo ist Knuffel jetzt?“
„Bei mir. Du hast
ihn mir damals heimlich in den Koffer gelegt, als ich wegfuhr“, sagt er
ungerührt. Ich fühle, wie meine Zweifel wanken, „Gut, aber was ist nun so
schlecht an diesem Leben voller Freiheit und Verantwortungslosigkeit?“
„Vielleicht
klingt es im ersten Moment nach Freiheit, aber letztendlich ist es die Freiheit
eines Vogelfreien. Niemals wieder wirst Du mit den Menschen zusammen sein, die
Du liebst. Du wirst nicht an den Freuden teilhaben, die Deine Söhne erleben und
Du musst immer Angst haben doch noch entdeckt zu werden. Irgendwann fragst Du
Dich wer Du eigentlich bist. Und vor allem, es gibt kein Zurück mehr“, versucht
er seine Lage zu erklären.
„Aber Du bist
doch zurückgekommen?“, frage ich ausweichend, „Warum hast Du das getan, nach
all den Jahren? Um wieder alles in Unordnung zu bringen und dann wieder
abzuhauen?“
„Nein, weil ich
die Zeit für gekommen hielt manches in Ordnung zu bringen“, erklärt er, und aus
seiner Stimme klingt eine tiefe Müdigkeit, „Damals habe ich gedacht, dass
endlich Ruhe einkehrt, wenn ich gehe, dass Du, Deine Mutter und jetzt Deine
Familie, ein ruhiges Leben führen können, aber sie lassen es einfach nicht
gelten. Mein Opfer war sinnlos.“
„Und nun willst
Du ein Opfer das Sinn hat?“, entgegne ich automatisch, „Opfer, was für ein
großes Wort. Nicht vielen steht das Märtyrertum.“
„Da hast Du
wahrscheinlich recht, aber wir müssen es zumindest versuchen!“, gibt er zurück,
und sein Entschluss scheint unumstößlich, mit oder ohne meine Hilfe. Vielleicht
gibt es wirklich noch was zu retten.“
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