1802 FastEndZeit (Teil 1):


Die Unwägbarkeiten des Lebens


Der Schwall geschah vierzig Tage, vierzig Nächte auf die Erde.[1]

Vielleicht begann es einfach damit, dass dichte Wolken aufzogen, dass es mitten am Tag finster und düster wurde, Nacht mitten am Tag, bedrohlich näherte sich der Himmel der Erde. Nicht um zu verschmelzen, sondern um sie zu bedrohen. Dort, wo die Wolken auf den Gipfel stießen, auf einen der hohen, ganz hohen, dort riss die Hülle entzwei, und der Groll des Donners zerfetzte die Luft. Beispiellos. Die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern. Man darf nicht vereinen, was zurecht getrennt wurde. Man darf nicht trennen was zurecht vereint wurde. Und doch machen wir es täglich, vereinen die Schuld mit der Unschuld, das Unberührte mit dem Berührten, das Nahe mit dem Fernen, und wir trennen das Miteinander und das Verstehen, lösen es auf in ein nebulöses Irgendwie. Beliebigkeit und Beiläufigkeit. Es betrifft uns nicht mehr als getrennt. Es betrifft uns immer weniger. Es ist einfach zu viel, was Betroffenheit auslösen sollte. Wir schaffen es nicht mehr. Die Flut vom Himmel stürzt auf uns herein. Jeden Tag trifft uns die Flut an Meldungen und Informationen. Ein, zwei lesen wir oder hören wir uns an. Ein paar werden noch als Überschriften, Schlagwörter wahrgenommen, doch dann ist unsere Aufmerksamkeitsgrenze erreicht, die Aufnahmefähigkeit erschöpft. Wasser, das vom Himmel kommt. Nach den Wolken der Regen. Wasser, das die Erde berührt und in sie eindringt, sich zwischen Steinen und Felsen, zwischen Erdkrumen und Sandkristallen seinen Weg bahnt. Erstarrend am Pol zu Eis. Verdunstend in der Wüste zu Dampf. Irgendwo muss es hin. Und dann ist die Erde übersättigt. Jede Pore ist ausgefüllt. Der Pol ist gänzlich vereist und die Luft über der Wüste kann keinen Dampf mehr aufnehmen. Der Regen kommt vom Himmel. Unaufhaltsam. Die Informationen kommen von allen Seiten. Sie bedrängen uns, machen uns wehrlos, dringen in uns ein, gefrieren zu Eis oder verdampfen, bis wir ganz und gar gesättigt sind. Doch der Regen flutet weiter. Vom ersten Tag bis zum 40. Von der ersten Nacht bis zur 40. Dann kehrt Ruhe ein. Die Wolken waren ausgeregnet. Es war ein Ende absehbar. Es war greifbar.
Der erste Tag Regen. Die Erde nahm ihn auf. Vielleicht noch gierig, durstig.
Der zweite Tag Regen. Die Erde verschloss sich dem Wasser, und es mehrten sich die schlammigen Pfützen. Tiere tranken. Und sie waren nicht mehr durstig. Sie suchten sich einen Ort der Zuflucht, dort, wo es trocken war, während es unablässig weiterregnete. Der dritte Tag Regen verwandelte die Pfützen in Lacken, Tümpeln in Seen und Seen zu Meeren.
Der vierte Tag Regen. Die Flüsse traten über die Ufer und drangen immer weiter vor in das Land, das bewohnt wurde.
Der fünfte Tag Regen. Die Tiere und die Menschen wichen zurück vor dem Wasser. Sie stiegen auf Hügel.
Der sechste Tag Regen. Das Wasser hatte vorgegebenes Terrain schon längst verlassen und stieg immer höher. Die auf den Hügeln merkten, dass sie nicht hoch genug waren um in Sicherheit zu sein. Sie stiegen wieder hinunter von den Hügeln.
Der siebte Tag Regen. Und das Wasser stieg immer höher und höher. Es war gut gewesen auf einen Berg zu steigen. Die von den Hügeln kamen versuchten die Berge zu erreichen. Nicht immer gelang es. Es ertrank, wem es nicht gelang. Gott ruhte am siebten Tage, hieß es, nur der Regen tat es nicht. Der Regen war nicht Gott. Er kennt keine Zeit. Er regnet. Das ist alles, was er zu tun hat.
der achte Tag Regen. Immer höher hinauf stiegen die Menschen. Die Tiere waren ihnen vorangegangen. immer kleiner wurde der Bereich, der nicht mit Wasser bedeckt war. Kälte breitete sich aus und Hunger und Verzagtheit.
Der neunte Tag Regen. Weh denen, die in flachen Gebieten wohnten. Sie wurden Futter die Fische und anderes Meeresgetier.
Der zehnte Tag Regen. Und die Fische freuten sich. Für viele gab es kein Entrinnen mehr. Sie jedoch waren in Sicherheit.

Einfach so war es geschehen, einfach so ging es weiter, und der Mensch erkannte, es gab Dinge, die er weder beherrschen noch zähmen konnte. Achselzuckend sagten manche, das wären eben die Unwägbarkeiten des Lebens. Das waren die Zyniker. Sie sind nicht alle ertrunken.


[1] Gen. 7,12. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

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