Die Unwägbarkeiten des Lebens
Der Schwall geschah vierzig Tage, vierzig Nächte auf die Erde.[1]
Vielleicht begann es einfach damit, dass dichte Wolken
aufzogen, dass es mitten am Tag finster und düster wurde, Nacht mitten am Tag,
bedrohlich näherte sich der Himmel der Erde. Nicht um zu verschmelzen, sondern
um sie zu bedrohen. Dort, wo die Wolken auf den Gipfel stießen, auf einen der
hohen, ganz hohen, dort riss die Hülle entzwei, und der Groll des Donners
zerfetzte die Luft. Beispiellos. Die Menschen verkrochen sich in ihren Häusern.
Man darf nicht vereinen, was zurecht getrennt wurde. Man darf nicht trennen was
zurecht vereint wurde. Und doch machen wir es täglich, vereinen die Schuld mit
der Unschuld, das Unberührte mit dem Berührten, das Nahe mit dem Fernen, und
wir trennen das Miteinander und das Verstehen, lösen es auf in ein nebulöses
Irgendwie. Beliebigkeit und Beiläufigkeit. Es betrifft uns nicht mehr als
getrennt. Es betrifft uns immer weniger. Es ist einfach zu viel, was Betroffenheit
auslösen sollte. Wir schaffen es nicht mehr. Die Flut vom Himmel stürzt auf uns
herein. Jeden Tag trifft uns die Flut an Meldungen und Informationen. Ein, zwei
lesen wir oder hören wir uns an. Ein paar werden noch als Überschriften,
Schlagwörter wahrgenommen, doch dann ist unsere Aufmerksamkeitsgrenze erreicht,
die Aufnahmefähigkeit erschöpft. Wasser, das vom Himmel kommt. Nach den Wolken
der Regen. Wasser, das die Erde berührt und in sie eindringt, sich zwischen
Steinen und Felsen, zwischen Erdkrumen und Sandkristallen seinen Weg bahnt.
Erstarrend am Pol zu Eis. Verdunstend in der Wüste zu Dampf. Irgendwo muss es
hin. Und dann ist die Erde übersättigt. Jede Pore ist ausgefüllt. Der Pol ist
gänzlich vereist und die Luft über der Wüste kann keinen Dampf mehr aufnehmen.
Der Regen kommt vom Himmel. Unaufhaltsam. Die Informationen kommen von allen
Seiten. Sie bedrängen uns, machen uns wehrlos, dringen in uns ein, gefrieren zu
Eis oder verdampfen, bis wir ganz und gar gesättigt sind. Doch der Regen flutet
weiter. Vom ersten Tag bis zum 40. Von der ersten Nacht bis zur 40. Dann kehrt
Ruhe ein. Die Wolken waren ausgeregnet. Es war ein Ende absehbar. Es war
greifbar.
Der erste Tag Regen. Die Erde nahm ihn auf. Vielleicht noch
gierig, durstig.
Der zweite Tag Regen. Die Erde verschloss sich dem Wasser,
und es mehrten sich die schlammigen Pfützen. Tiere tranken. Und sie waren nicht
mehr durstig. Sie suchten sich einen Ort der Zuflucht, dort, wo es trocken war,
während es unablässig weiterregnete. Der dritte Tag Regen verwandelte die
Pfützen in Lacken, Tümpeln in Seen und Seen zu Meeren.
Der vierte Tag Regen. Die Flüsse traten über die Ufer und
drangen immer weiter vor in das Land, das bewohnt wurde.
Der fünfte Tag Regen. Die Tiere und die Menschen wichen
zurück vor dem Wasser. Sie stiegen auf Hügel.
Der sechste Tag Regen. Das Wasser hatte vorgegebenes Terrain
schon längst verlassen und stieg immer höher. Die auf den Hügeln merkten, dass
sie nicht hoch genug waren um in Sicherheit zu sein. Sie stiegen wieder
hinunter von den Hügeln.
Der siebte Tag Regen. Und das Wasser stieg immer höher und
höher. Es war gut gewesen auf einen Berg zu steigen. Die von den Hügeln kamen
versuchten die Berge zu erreichen. Nicht immer gelang es. Es ertrank, wem es
nicht gelang. Gott ruhte am siebten Tage, hieß es, nur der Regen tat es nicht.
Der Regen war nicht Gott. Er kennt keine Zeit. Er regnet. Das ist alles, was er
zu tun hat.
der achte Tag Regen. Immer höher hinauf stiegen die
Menschen. Die Tiere waren ihnen vorangegangen. immer kleiner wurde der Bereich,
der nicht mit Wasser bedeckt war. Kälte breitete sich aus und Hunger und
Verzagtheit.
Der neunte Tag Regen. Weh denen, die in flachen Gebieten
wohnten. Sie wurden Futter die Fische und anderes Meeresgetier.
Der zehnte Tag Regen. Und die Fische freuten sich. Für viele
gab es kein Entrinnen mehr. Sie jedoch waren in Sicherheit.
[1] Gen. 7,12. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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