Der Stachel im Fleisch
40 – Zeit der Reife, Zeit der Prüfung, Zeit der Erziehung.
40 Tage Regen. Dann hört der Regen auf. Die Wolken sind
verschwunden. Kein Tropfen fällt mehr. Die Erde ist bedeckt bis zu den höchsten
Gipfeln. Es gibt keine Zuflucht vor der Unausweichlichkeit. Es gibt kein
Entrinnen der gleichgültigen Naturgewalt. Das Leben geht seinen Weg. Es ist im
gleich, ob über oder unter Wasser. Es lässt sich nicht aufhalten, noch
vertreiben. Selbst wenn wir es schafften alles Grün, überall wo Erde ist, mit
Beton zu betäuben, es fände sich ein Samen. Und es ist dieser eine Same, der
ausreicht sich den Weg durch den Beton zu bahnen. Das Leben ist und findet
immer wieder zu sich selbst. Es kann nicht anders. Die Präsenz wird immer neu
gestaltet, und doch bleibt sie sich gleich, selbst oder gerade im Schatten des
Todes, wird es seiner selbst getreu bleibend immer neu, als es selbst, und doch
in allen Differenzierungen. Das Leben ist.
Vierzig Tage war die
Flut über der Erde.[1]
Über alle Schwellen hinaus war das Wasser gestiegen. Nichts
mehr war, als Wasser und unser Bett als Boot und der Baldachin als Dach. Die
Erde schien nichts weiter zu sein als Wasser, und das Leben hielt sich darin
verborgen, als würde es ruhen. Doch in Wahrheit hatte es sich nur abgesenkt in
die Tiefen der Ozeane, die nun zu einem einzigen großen Wasser, einem Urozean
vereint waren. Als wäre die Uhr zurückgedreht worden auf Ursprung, als es nur
Wasser war, und das Land sich erst hervortun konnte, wenn das Wasser sich
zurückzog, Es würde geschehen. Es wird geschehen. Weil der Lauf der Dinge so
ist. Und die Sonne, die sich Bahn brach durch die Wolken, trocknete unser Boot
und unser Dach und unsere Kleider, bis nur mehr der Salzgeschmack zurückblieb,
der des Salzes, das im Meer war, das nun vollständig die Erde bedeckte, als
wäre es ein einziges großes Ganzes. Die Vollkommenheit ohne Bruchlinien. Das
Salz, das Leben erst ermöglichte, das wir brauchen, und das Salz, das das Leben
im Übermaß zerstört. Einzelnes zumindest. Niemals das Ganze. Immer findet das
Leben seinen Rückzugsort, und sei es unter Wasser, in den Abgründen des einen
einzigen Ozeans, bis hinab in jene Regionen, da das Leben selbst ohne Licht
ist. Überall ist sein Platz. Nichts so unwirtlich und tödlich, dass sich das
Leben nicht einfinden würde. Und die Sonne, die sich Bahn gebrochen hatte durch
die Wolken, die nun ausgeleert und leer waren, trocknete unsere Kleider und
ließ unsere Haut vertrocknen. Die Sonne, die das Leben wärmt und wachsen lässt.
Eben jene Sonne lässt auch verdorren und sterben. Es rührt sie nicht, denn
niemals kann sie alles verdorren lassen, wenn es auch unsere Haut war. Wir
stellten uns der Unausweichlichkeit, unterzogen uns der Prüfung, um zu reifen,
um erzogen zu werden. Vielleicht zu einem neuen Mensch-sein, jenseits der
Zerstörung und der Verwünschung und der Flut. Vielleicht ist es ja möglich,
dass der Mensch reift an einer Prüfung, auch wenn er sie nicht unbedingt
versteht. Allzu leichtfertig schiebt er die Schuld von sich, aber wer Schuld
von sich weist, der kann nicht wachsen, weil er meint nichts falsch gemacht zu
haben, und so wird das Leben, doch der Mensch nicht, entwickelt sich das Leben,
aber der Mensch nicht, kann das Leben sich differenzieren, nur der Mensch
nicht. Aber dem Leben ist es einerlei. Und wenn der Mensch ganz versinkt in den
Untiefen des Ozeans, so spielt es weiters keine Rolle, außer, dass die Erde ein
Antlitz erhält, das lebenswert ist und bleibt, unbeeinflusst von der Hand
dessen, der um nichts weiter als seiner eigenen Bestätigung willen mordet und
zerstört. Er wird nicht fehlen, der Mensch, inmitten des Lebens, das ungerührt
wird, und doch, er geht durch die Flut hindurch und bleibt. Vielleicht ist er
der Stachel im Fleisch der Erde, der an die Unvollkommenheit gemahnt.
[1] Gen. 7. 17 Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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