2002 FastEndZeit (Teil 3):


Der Stachel im Fleisch


40 – Zeit der Reife, Zeit der Prüfung, Zeit der Erziehung.

40 Tage Regen. Dann hört der Regen auf. Die Wolken sind verschwunden. Kein Tropfen fällt mehr. Die Erde ist bedeckt bis zu den höchsten Gipfeln. Es gibt keine Zuflucht vor der Unausweichlichkeit. Es gibt kein Entrinnen der gleichgültigen Naturgewalt. Das Leben geht seinen Weg. Es ist im gleich, ob über oder unter Wasser. Es lässt sich nicht aufhalten, noch vertreiben. Selbst wenn wir es schafften alles Grün, überall wo Erde ist, mit Beton zu betäuben, es fände sich ein Samen. Und es ist dieser eine Same, der ausreicht sich den Weg durch den Beton zu bahnen. Das Leben ist und findet immer wieder zu sich selbst. Es kann nicht anders. Die Präsenz wird immer neu gestaltet, und doch bleibt sie sich gleich, selbst oder gerade im Schatten des Todes, wird es seiner selbst getreu bleibend immer neu, als es selbst, und doch in allen Differenzierungen. Das Leben ist.

Vierzig Tage war die Flut über der Erde.[1]

Über alle Schwellen hinaus war das Wasser gestiegen. Nichts mehr war, als Wasser und unser Bett als Boot und der Baldachin als Dach. Die Erde schien nichts weiter zu sein als Wasser, und das Leben hielt sich darin verborgen, als würde es ruhen. Doch in Wahrheit hatte es sich nur abgesenkt in die Tiefen der Ozeane, die nun zu einem einzigen großen Wasser, einem Urozean vereint waren. Als wäre die Uhr zurückgedreht worden auf Ursprung, als es nur Wasser war, und das Land sich erst hervortun konnte, wenn das Wasser sich zurückzog, Es würde geschehen. Es wird geschehen. Weil der Lauf der Dinge so ist. Und die Sonne, die sich Bahn brach durch die Wolken, trocknete unser Boot und unser Dach und unsere Kleider, bis nur mehr der Salzgeschmack zurückblieb, der des Salzes, das im Meer war, das nun vollständig die Erde bedeckte, als wäre es ein einziges großes Ganzes. Die Vollkommenheit ohne Bruchlinien. Das Salz, das Leben erst ermöglichte, das wir brauchen, und das Salz, das das Leben im Übermaß zerstört. Einzelnes zumindest. Niemals das Ganze. Immer findet das Leben seinen Rückzugsort, und sei es unter Wasser, in den Abgründen des einen einzigen Ozeans, bis hinab in jene Regionen, da das Leben selbst ohne Licht ist. Überall ist sein Platz. Nichts so unwirtlich und tödlich, dass sich das Leben nicht einfinden würde. Und die Sonne, die sich Bahn gebrochen hatte durch die Wolken, die nun ausgeleert und leer waren, trocknete unsere Kleider und ließ unsere Haut vertrocknen. Die Sonne, die das Leben wärmt und wachsen lässt. Eben jene Sonne lässt auch verdorren und sterben. Es rührt sie nicht, denn niemals kann sie alles verdorren lassen, wenn es auch unsere Haut war. Wir stellten uns der Unausweichlichkeit, unterzogen uns der Prüfung, um zu reifen, um erzogen zu werden. Vielleicht zu einem neuen Mensch-sein, jenseits der Zerstörung und der Verwünschung und der Flut. Vielleicht ist es ja möglich, dass der Mensch reift an einer Prüfung, auch wenn er sie nicht unbedingt versteht. Allzu leichtfertig schiebt er die Schuld von sich, aber wer Schuld von sich weist, der kann nicht wachsen, weil er meint nichts falsch gemacht zu haben, und so wird das Leben, doch der Mensch nicht, entwickelt sich das Leben, aber der Mensch nicht, kann das Leben sich differenzieren, nur der Mensch nicht. Aber dem Leben ist es einerlei. Und wenn der Mensch ganz versinkt in den Untiefen des Ozeans, so spielt es weiters keine Rolle, außer, dass die Erde ein Antlitz erhält, das lebenswert ist und bleibt, unbeeinflusst von der Hand dessen, der um nichts weiter als seiner eigenen Bestätigung willen mordet und zerstört. Er wird nicht fehlen, der Mensch, inmitten des Lebens, das ungerührt wird, und doch, er geht durch die Flut hindurch und bleibt. Vielleicht ist er der Stachel im Fleisch der Erde, der an die Unvollkommenheit gemahnt.


[1] Gen. 7. 17 Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

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