Zeit des Rabens – Zeit der Taube
An Ende von vierzig
Tagen geschahs: Noah öffnete das Fenster des Kastens, das er gemacht hatte, und
schickte den Raben frei, der zog in Zug und Kehre, bis das Wasser von der Erde
getrocknet war. Er schickte die Taube von sich aus frei, zu sehen, ob das
Wasser von dem Antlitz des Ackers verringert sei. Die Taube fand keine Ruhstatt
für ihre Fußsohle, sie kehrt zu ihm in den Kasten, denn Wasser war auf dem
Antlitz der Erde, er schickte seine Hand aus und nahm sie und ließ sie zu sich
in den Kasten kommen. Er wartete nochmals ein andres Tagsiebend und schickte
wieder die Taube aus dem Kasten. Zur Abendzeit kam die Taube zu ihm, und, da,
ein gepflücktes Ölblatt in ihrem Schnabel![1]
Zeit des Rabens – Zeit der Taube. Zeit zu bleiben – Zeit zu
gehen. Wenn die Zeit der Prüfung vorbei ist und Du gereift bist, dann kannst Du
Dich bewähren. Wenn Du der Rabe bist und keinen Platz findest, an dem Du
sesshaft werden könntest, dann musst Du zurückkehren und bleiben. Du bist noch
nicht so weit. Kehrst Du zurück, kannst Du noch wachsen, doch wenn Du nicht
zurückkehrst, dann kannst Du Deine Kreise ziehen bis Dich die Kraft verlässt
und Du untergehst, abstürzt und versinkst, in den Wellen der
Bedeutungslosigkeit. Kehre um und lass Dich schützen, so lange es notwendig
ist, so lange Du des Schutzes bedarfst. Noch bist Du klein und Deine Kraft
reicht nicht für die Ewigkeit. So hat alles seine Zeit. Wenn Du aber die Taube
bist und einen Ölzweig findest, dann weißt Du, nur noch eine kleine Weile, und
Du kannst ausziehen Deinen Platz zu suchen. Denn dann wirst Du ihn auch finden.
Zeit des Säens – Zeit zu Wachsen. Die Frucht wird eingebracht, in die Erde. Sie
wird verschüttet und ruht im Schoss der Mutter, die uns allen das Leben
schenkt, verborgen vor der Zerstörung und den Kräften, die das Leben
hintertreiben. Im Schoss der Mutter – immerwährendes Asyl, oder zumindest so
lange bis es Dich treibt hervorzubrechen und die sichere Behaustheit zu
verlassen, bis Du bereit bist herauszutreten, weil Deine Wurzeln Dich halten,
Dich fest verankern, denn der Ursprung, den Du verlässt, der verbleibt mit Dir.
Die Behaustheit der ersten Tage, so Du sie erfahren durftest, wird Dich
begleiten und bestärken. Zeit der Reife – Zeit der Ernte. Wenn es Zeit ist,
dann bist Du gereift. Das Leben hat Dich erhoben zu Dir selbst, Du selbst bist
es gewesen, und doch nie Du allein. Du reifst am Du, am Augenblick des
Ineinander, des Miteinander. Zeit der Ernte, Zeit die Frucht einzubringen, in
die Erde zurückkehrend, um im Schutz des Schosses neue Kraft zu tanken. Der
Kreislauf vollendet sich – säen, wachsen, reifen, ernten. Es ist der Kreis, der
uns einnimmt und beruhigt, Sicherheit vermittelnd und bewährend. Und wenn unser
Boot, das unser Bett ist, mit dem Dach, das unser Baldachin ist, am Berg Ararat
strandet, dann gilt es, nur noch eine kleine Weile und wir können das Lager
verlassen. Der Raum wird vom Wasser freigegeben und er wird sich uns eröffnen,
uns aufnehmen. Ohne die Zuflucht zu verlieren, doch immer ist die Freiheit auch
Gefahr, immer ist die Freiheit die Möglichkeit, die kommt, immer wieder und
wenn wir bereit sind, sind wir dem Leben selbst gewachsen. Schutz und
Bedrohung. Die beiden Seiten begleiten uns immer. Zeit des Rabens – Zeit der
Taube. Es wird sich bewähren, wenn Du die Zeit gewähren lässt und sie nicht
drängst, nicht überforderst. Sie lässt sich weder drängen noch zwingen, denn
sie nimmt sich die Dauer, die sie braucht, ohne sich einem Druck zu
unterwerfen. Sicher lässt sich manches beschleunigen, aber es wird niemals zum
Segen gereichen. Der Rabe wird verschlungen und die Taube den Ölzweig nicht
finden. Aber wenn sie es erwartet, ist der Platz bereitet, um sich auszuruhen,
zu bleiben, anzukommen, auszugehen und zurückzukehren.
[1] Gen. 7,6-11. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
[1] Gen. 7,6-11. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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