2102 FastEndZeit (Teil 4):



Zeit des Rabens – Zeit der Taube


An Ende von vierzig Tagen geschahs: Noah öffnete das Fenster des Kastens, das er gemacht hatte, und schickte den Raben frei, der zog in Zug und Kehre, bis das Wasser von der Erde getrocknet war. Er schickte die Taube von sich aus frei, zu sehen, ob das Wasser von dem Antlitz des Ackers verringert sei. Die Taube fand keine Ruhstatt für ihre Fußsohle, sie kehrt zu ihm in den Kasten, denn Wasser war auf dem Antlitz der Erde, er schickte seine Hand aus und nahm sie und ließ sie zu sich in den Kasten kommen. Er wartete nochmals ein andres Tagsiebend und schickte wieder die Taube aus dem Kasten. Zur Abendzeit kam die Taube zu ihm, und, da, ein gepflücktes Ölblatt in ihrem Schnabel![1]

Zeit des Rabens – Zeit der Taube. Zeit zu bleiben – Zeit zu gehen. Wenn die Zeit der Prüfung vorbei ist und Du gereift bist, dann kannst Du Dich bewähren. Wenn Du der Rabe bist und keinen Platz findest, an dem Du sesshaft werden könntest, dann musst Du zurückkehren und bleiben. Du bist noch nicht so weit. Kehrst Du zurück, kannst Du noch wachsen, doch wenn Du nicht zurückkehrst, dann kannst Du Deine Kreise ziehen bis Dich die Kraft verlässt und Du untergehst, abstürzt und versinkst, in den Wellen der Bedeutungslosigkeit. Kehre um und lass Dich schützen, so lange es notwendig ist, so lange Du des Schutzes bedarfst. Noch bist Du klein und Deine Kraft reicht nicht für die Ewigkeit. So hat alles seine Zeit. Wenn Du aber die Taube bist und einen Ölzweig findest, dann weißt Du, nur noch eine kleine Weile, und Du kannst ausziehen Deinen Platz zu suchen. Denn dann wirst Du ihn auch finden. Zeit des Säens – Zeit zu Wachsen. Die Frucht wird eingebracht, in die Erde. Sie wird verschüttet und ruht im Schoss der Mutter, die uns allen das Leben schenkt, verborgen vor der Zerstörung und den Kräften, die das Leben hintertreiben. Im Schoss der Mutter – immerwährendes Asyl, oder zumindest so lange bis es Dich treibt hervorzubrechen und die sichere Behaustheit zu verlassen, bis Du bereit bist herauszutreten, weil Deine Wurzeln Dich halten, Dich fest verankern, denn der Ursprung, den Du verlässt, der verbleibt mit Dir. Die Behaustheit der ersten Tage, so Du sie erfahren durftest, wird Dich begleiten und bestärken. Zeit der Reife – Zeit der Ernte. Wenn es Zeit ist, dann bist Du gereift. Das Leben hat Dich erhoben zu Dir selbst, Du selbst bist es gewesen, und doch nie Du allein. Du reifst am Du, am Augenblick des Ineinander, des Miteinander. Zeit der Ernte, Zeit die Frucht einzubringen, in die Erde zurückkehrend, um im Schutz des Schosses neue Kraft zu tanken. Der Kreislauf vollendet sich – säen, wachsen, reifen, ernten. Es ist der Kreis, der uns einnimmt und beruhigt, Sicherheit vermittelnd und bewährend. Und wenn unser Boot, das unser Bett ist, mit dem Dach, das unser Baldachin ist, am Berg Ararat strandet, dann gilt es, nur noch eine kleine Weile und wir können das Lager verlassen. Der Raum wird vom Wasser freigegeben und er wird sich uns eröffnen, uns aufnehmen. Ohne die Zuflucht zu verlieren, doch immer ist die Freiheit auch Gefahr, immer ist die Freiheit die Möglichkeit, die kommt, immer wieder und wenn wir bereit sind, sind wir dem Leben selbst gewachsen. Schutz und Bedrohung. Die beiden Seiten begleiten uns immer. Zeit des Rabens – Zeit der Taube. Es wird sich bewähren, wenn Du die Zeit gewähren lässt und sie nicht drängst, nicht überforderst. Sie lässt sich weder drängen noch zwingen, denn sie nimmt sich die Dauer, die sie braucht, ohne sich einem Druck zu unterwerfen. Sicher lässt sich manches beschleunigen, aber es wird niemals zum Segen gereichen. Der Rabe wird verschlungen und die Taube den Ölzweig nicht finden. Aber wenn sie es erwartet, ist der Platz bereitet, um sich auszuruhen, zu bleiben, anzukommen, auszugehen und zurückzukehren.


[1] Gen. 7,6-11. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

[1] Gen. 7,6-11. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

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