2602 FastEndZeit (Teil 9):


Wie die Kinder


Eure Söhne werden vierzig Jahre in der Wüste weiden müssen, sie tragen eure Hurerei, bis eure Leichen in der Wüste sind.[1]

Menschen sind wie kleine Kinder. Immer sind sie wie kleine Kinder. Sie kommen über das Stadium des Kind-seins nicht hinaus. Äußerlich werden sie zu Erwachsenen, groß und behaart und verändert, doch innerlich bleiben sie Kinder. Auch wenn sie nicht behandelt werden wie Kinder, so benehmen sie sich so. Sie wollen haben, was der andere hat. Gierig und sabbernd visieren sie das an, was sie haben wollen, weil es der andere hat, auch wenn sie es nicht brauchen. Sie wollen nur nicht weniger haben – und meinen dann auch nicht weniger zu sein. Dabei hat das Sein mit dem Haben nur insofern etwas gemein, als dass das Sein die Grundkonstituente des Seienden bildet, das sich den Nichtigkeiten zu- und dem Existentiellen abwendet. Wir bleiben kleine Kinder, wenn wir nach dem Richter schreien, wie früher nach der Mama. Wir meinen uns ständig ins Unrecht gesetzt. Es kann nicht angehen, dass wir Ungerechtigkeiten zu erdulden haben. Es sind die Nichtigkeiten, die uns verführen. Glitzer und bunte Farben. So stehen wir mit großen, glänzenden Augen davor, wie Kinder vor dem Spielzeug. Die Art der Dinge ändert sich, aber nicht, dass die Dinge an sich unser Herz beherrschen. Und selbst wenn das Urteil 40 Jahre Verdammung in der Wüste bedeutet, so wird sie abgesessen, um dann ebenso wieder zu verfahren wie zuvor. Wie ein Gefangener, der nur auf den Tag seiner Entlassung wartet, um an diesem Tag genau dasselbe Verbrechen zu begehen, weil die Einsicht nicht erfolgte und keine Entwicklung. Das Kind, das der Mensch blieb, verlangt nach sofortiger Erfüllung seiner Wünsche, verlangt die Bestrafung der vermeintlichen Feinde, verlangt den Himmel und die Erde – verlangt alles. Was es nicht bekommt, eignet er sich an. Ungeniert und ohne Bedenken. Nichts was hält außer die eigene Unzulänglichkeit. Und darüber geraten wir in Wut und schlagen an die Wände und auf den Boden, rennen mit dem Kopf gegen die Wand. In der Uneinsichtigkeit erkennen wir die Sinnlosigkeit nicht. Bloß eine Betäubung. Doch vor allem sehen wir unsere eigene Hybris nicht, denn wir wollen immer größer sein, als wir sind, ohne der Größe gewachsen zu sein, wollen uns aufschwingen in Höhen, in denen wir nicht mehr atmen können. Und wir wissen noch nicht einmal warum wir es wollen. Dass wir es wollen scheint zu genügen. Dass wir wollen rechtfertigt das Wollen. Es wird nicht hinterfragt. Und was wir nicht sofort erhalten, wer unseren Wünschen nicht sofort entspricht, ja wer uns gar Mühe und Plage auferlegt, von dem wenden wir uns ab, so sehr wir seiner auch bedürfen, wenden uns ab und marktschreierischen Versprechungen der Blender und Heuchler zu. Sie brauchen sich nicht zu erweisen, damit wir ihnen glauben. Wir glauben ihnen einfach so, weil sie versprechen, und weil wir meinen, dass jeder, der verspricht auch hält, und wenden uns von dem ab, der uns das Geheimnis anvertraute, dass zu dem Erlangen ein Weg führt, ein harter, steiniger Weg oft, den wir zuerst gehen müssen. Aber wir wollen nicht erst gehen und dann erreichen, sondern sofort erreichen. Und wenn einer kommt, der uns das verspricht, dann wenden wir uns diesem zu. Und wenn wir erkennen, dass er uns hinters Licht geführt hat, dass er seine Versprechungen nicht einlöst, dann wenden wir uns wieder ab, und dem nächsten zu, der dieselben Versprechungen macht. Und wieder glauben wir, nur von dem, der die Wahrheit sagt, wollen wir nichts wissen. Und jedes Mal irren wir durch die Wüste, ohne dazu zu lernen.

40 Tage
40 Monate
40 Jahre

Und wir bleiben wie die Kinder, unbelehrbar nur, weil wir meinen als Erwachsene nichts mehr lernen zu müssen, uns nicht mehr entwickeln zu müssen.



[1] Num. 14,33. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

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