2702 FastEndZeit (Teil 10):


Verloren


Nach der Zahl der Tage, die ihr das Land durchspürtet, vierzig Tage: ein Tag für das Jahr, ein Tag für das Jahr, sollt ihr eure Verfehlungen tragen.[1]

Ein Tag für das Jahr. 40 Tage.
Ein Tag für das Jahr. 40 Jahre.

Zeit der Reife – Zeit der Prüfung – Zeit der Erziehung

Wir wollen nicht reifen – und denken derweil an die Fleischtöpfe Ägyptens zurück. Es lebt sich doch so wunderbar in der Gefangenschaft, wenn man genug zu Essen hat und ein Dach über dem Kopf und eigentlich auch den Schutz der weltlichen Macht. Natürlich, wir können uns nicht so bewegen, wie wir wollen. Aber was solls, wenn es warm und gemütlich ist und der Bauch voll. Dann strömt das Blut vom Kopf in den Bauch. Der Körper braucht es um zu verdauen. Wir werden matt und träge. Aber was solls, wir brauchen uns auch um nichts zu sorgen. Und die Freiheit, das ist doch sowieso nur was für Tagträumer. Sicher, wir haben unseren Sold zu zahlen, unser Joch zu tragen, aber das wiegt immer noch weit weniger als die Ungewissheit, wenn wir uns hinauswagen in die Fremde, von der uns von Anfang an gesagt wird, es wird nicht leicht sein. Hier haben wir es auch nicht leicht, aber zumindest müssen wir nicht hungern und nicht frieren und nicht darben. Wir brauchen nicht zu reifen, weil wir schon reif genug sind das zu erkennen, was zählt.

Zeit der Reife – Zeit der Prüfung – Zeit der Erziehung

Wir brauchen auch keine Prüfungen. Sicherlich, es heißt, man wächst an Prüfungen, aber wer bestimmt denn, dass es notwendig ist zu wachsen. Als wir aus dem Mutterleib krochen, da mussten wir wachsen, um am Leben teilhaben zu können, um nicht immer abhängig zu sein, zumindest körperlich. Jetzt haben wir unseren Körper an die Bequemlichkeit verkauft, und unser Herz und unsere Seele. Es ist nicht gut, aber dort draußen, dort wo uns die Freiheit erwartet, dort kann es noch schlechter sein. Vielleicht wird es wirklich besser, so wie uns versprochen wurde, aber wer weiß schon, ob das stimmt. Das Schlechte, das ich habe, ist allemal besser, als das Gute, das nicht sicher ist. Wir sind groß genug und haben beschlossen in dieser Sicherheit zu verbleiben. Wer beutet uns aus? Letztlich ist es doch nicht so schlimm. Es sichert das Überleben. Und mehr kann man doch nicht vom Leben verlangen. Das Überleben. Leben? Lebendiges Leben über das bloße Überleben, am Leben erhalten hinaus? Vielleicht gibt es das, aber es ist nicht notwendig, nicht unbedingt. Wir brauchen nicht zu wachsen, wir sind groß genug.

Zeit der Reife – Zeit der Prüfung – Zeit der Erziehung

Wir brauchen nicht erzogen zu werden, denn wir sind längst erzogen. Von klein auf wurde an uns herumerzogen. Wir haben genug davon. Wir sind groß und erzogen und völlig in Ordnung wie wir sind. Wer sagt denn, dass der Mensch nach Höherem streben muss? Was soll das überhaupt sein, dieses Höhere? Ist es etwas, das mir weiterhilft? Ist es etwas, das mir wohltut? Wahrscheinlich nicht. Es führt nur zur Unzufriedenheit. Wir sind zufrieden, weil wir nicht mehr wollen. Es ist das, was wir kennen, und mehr wollen wir nicht kennenlernen. Es ist alles so kompliziert – jetzt ist es einfach. Das Einfache ist immer das Bessere. Lasst uns in Ruhe mit der Erziehung. Wir wissen genug. Wir haben genug. Wir sind genug. Wir schließen die Türe.


[1] Num. 14,34. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

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