Verloren
Nach der Zahl der
Tage, die ihr das Land durchspürtet, vierzig Tage: ein Tag für das Jahr, ein
Tag für das Jahr, sollt ihr eure Verfehlungen tragen.[1]
Ein Tag für das Jahr. 40 Tage.
Ein Tag für das Jahr. 40 Jahre.
Zeit der Reife – Zeit der Prüfung – Zeit der Erziehung
Wir wollen nicht reifen – und denken derweil an die
Fleischtöpfe Ägyptens zurück. Es lebt sich doch so wunderbar in der
Gefangenschaft, wenn man genug zu Essen hat und ein Dach über dem Kopf und
eigentlich auch den Schutz der weltlichen Macht. Natürlich, wir können uns
nicht so bewegen, wie wir wollen. Aber was solls, wenn es warm und gemütlich
ist und der Bauch voll. Dann strömt das Blut vom Kopf in den Bauch. Der Körper
braucht es um zu verdauen. Wir werden matt und träge. Aber was solls, wir
brauchen uns auch um nichts zu sorgen. Und die Freiheit, das ist doch sowieso
nur was für Tagträumer. Sicher, wir haben unseren Sold zu zahlen, unser Joch zu
tragen, aber das wiegt immer noch weit weniger als die Ungewissheit, wenn wir
uns hinauswagen in die Fremde, von der uns von Anfang an gesagt wird, es wird
nicht leicht sein. Hier haben wir es auch nicht leicht, aber zumindest müssen
wir nicht hungern und nicht frieren und nicht darben. Wir brauchen nicht zu
reifen, weil wir schon reif genug sind das zu erkennen, was zählt.
Zeit der Reife – Zeit der Prüfung – Zeit der Erziehung
Wir brauchen auch keine Prüfungen. Sicherlich, es heißt, man
wächst an Prüfungen, aber wer bestimmt denn, dass es notwendig ist zu wachsen.
Als wir aus dem Mutterleib krochen, da mussten wir wachsen, um am Leben
teilhaben zu können, um nicht immer abhängig zu sein, zumindest körperlich.
Jetzt haben wir unseren Körper an die Bequemlichkeit verkauft, und unser Herz
und unsere Seele. Es ist nicht gut, aber dort draußen, dort wo uns die Freiheit
erwartet, dort kann es noch schlechter sein. Vielleicht wird es wirklich
besser, so wie uns versprochen wurde, aber wer weiß schon, ob das stimmt. Das
Schlechte, das ich habe, ist allemal besser, als das Gute, das nicht sicher
ist. Wir sind groß genug und haben beschlossen in dieser Sicherheit zu
verbleiben. Wer beutet uns aus? Letztlich ist es doch nicht so schlimm. Es
sichert das Überleben. Und mehr kann man doch nicht vom Leben verlangen. Das
Überleben. Leben? Lebendiges Leben über das bloße Überleben, am Leben erhalten
hinaus? Vielleicht gibt es das, aber es ist nicht notwendig, nicht unbedingt.
Wir brauchen nicht zu wachsen, wir sind groß genug.
Zeit der Reife – Zeit der Prüfung – Zeit der Erziehung
Wir brauchen nicht erzogen zu werden, denn wir sind längst
erzogen. Von klein auf wurde an uns herumerzogen. Wir haben genug davon. Wir
sind groß und erzogen und völlig in Ordnung wie wir sind. Wer sagt denn, dass
der Mensch nach Höherem streben muss? Was soll das überhaupt sein, dieses
Höhere? Ist es etwas, das mir weiterhilft? Ist es etwas, das mir wohltut?
Wahrscheinlich nicht. Es führt nur zur Unzufriedenheit. Wir sind zufrieden,
weil wir nicht mehr wollen. Es ist das, was wir kennen, und mehr wollen wir
nicht kennenlernen. Es ist alles so kompliziert – jetzt ist es einfach. Das
Einfache ist immer das Bessere. Lasst uns in Ruhe mit der Erziehung. Wir wissen
genug. Wir haben genug. Wir sind genug. Wir schließen die Türe.
[1] Num. 14,34. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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