Zeit der Prüfung
Gedenke all des Wegs,
den Er dein Gott in der Wüste Dich gehen machte diese vierzig Jahre, damit er
dich zu erproben, zu erkennen, was in Deinem Herzen ist, ob Du seine Gebote
wahren wirst, ob nicht.[1]
So ward die Flut überstanden und die Gefangenschaft, so ward
der Gang durch die Wüste. Alles wurde uns abverlangt. Der Durst quälte uns und
der Hunger. Die Hitze des Tages und die
Kälte der Nacht. Doch vor allem war es die Heimatlosigkeit. Wir zogen durch die
Wüste, vierzig Jahre lang, und da war kein fester Ort unseren Kopf zu betten.
Immer wieder schliefen wir an einem anderen Ort ein. Das Leben ging weiter. Wir
richteten uns ein, so wie sich der Mensch immer einrichtet. Kinder wurden
geboren und alte Leute starben, so wie es immer ist, so wie der Lauf der Dinge
ist. Die Alten erzählten den Jungen die Geschichte, von Anfang bis zum Ende,
immer wieder. Doch sie erzählten auch von der Verheißung, die uns gegeben
wurde, wenn die Zeit der Prüfung vorbei sein würde, der Verheißung eines
Landes, in dem wir Heimat finden würden, einen Platz unser Haupt zu betten, an
dem wir uns abends schlafen legen und morgens erwachen würden, bleibend. Wir
hatten nichts weiter zu tun als die Gebote zu halten, die die Freiheit
bedeuten. Freiheit des Einzelnen und Freiheit der Gemeinschaft. Wir wurden
begleitet, durch den, der uns herausrief aus der Namenlosigkeit. Niemals ließt
Du uns alleine. Niemals uns in der Verwüstung zurück. Es wurde Tag und es wurde
Nacht. Du warst da. Du, der Du Dich zu erkennen gabst, als der, der da ist,
liebend, haltend und umfassend. Doch wir waren und sind wie die Kinder, die
immer aufs Neue der Bestätigung bedürfen. Wenn wir uns die Hand vor die Augen
legen und Dich nicht sehen, dann meinen wir, Du bist verschwunden, und
übersehen, dass wir uns selbst blind machten für Dich, für das Wort. „Bist Du
da?“, schreien wir in die selbstgemachte Finsternis, doch niemand kann uns
Licht bringen, das wir uns selbst versagen. „Bist Du da?“, rufen wir in unserer
Ängstlichkeit und Kleingläubigkeit, doch wir stecken uns die Finger in die
Ohren und können Dich nicht hören, in dieser Welt, die wir uns selbst zum
Verstummen brachten. Es ist schwer jemand zu erreichen, wenn er nicht erreicht
werden will und wir waren verstockt und eigenwillig wie die Kinder. Immer wieder
verlangten wir Beweise, jeden Tag aufs Neue, jede Stunde des Tages aufs Neue.
Dabei warst Du und bist Du und wirst uns sein. Wir schaffen es nicht, unseren
Tag zu leben, das Tagwerk zu verrichten, ohne Ausschau zu halten und nach
Belobigung und Anerkennung zu suchen, weil die Liebe, die uns hält,
allgegenwärtig und omnipräsent ist, doch wir spüren sie gerade deshalb nicht
mehr. Wir wurden gleichgültig und fühllos. Es war nicht mehr unseres. Wir
verlangten mehr, immer mehr. Es war die Zeit der Prüfung. Wir wurden geprüft.
Doch wir meinten, wir dürften Dich prüfen und martern. Jeden Tag aufs Neue,
jede Stunde des Tages aufs Neue. Aber es ist doch so lange, diese Zeit, diese
vierzig Jahre. Ein Menschenleben lang. Wir wussten nicht, wie wir das aushalten
sollten, ohne zu versagen, weil wir unseren Kräften nicht vertrauten, weil wir
unseren Mut schwinden ließen, weil es immer etwas gab, was uns ablenkte,
verführte und beschwerte. Jeden Tag aufs Neue hoben wir an ob der unerträglich
langen Zeit zu jammern und zu zetern. Wir konnten nicht einfach bleiben,
konnten nicht einfach so leben wie es eben war. Der Jammer und das Zetern
versperrte unser Herz und unsere Gedanken. So dass wir blieben, ungereift und
unbegriffen. Weil wir es uns nicht zugestanden, weil wir es nicht zuließen, und
lieber in der Welt der Not und des Jammers versanken, die doch eine des Lichts
und der Liebe hätte sein können.
[1] Dt. 8,2. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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