Verschwebendes Schweigen
aber nach dem Feuer
eine Stimme verschwebenden Schweigens.[1]
Du hast die Naturgewalten überstanden, den Sturm und das
Beben und das Feuer, doch in keinem davon zeigte sich das Antlitz dessen, der
Dich aus der Namenlosigkeit und Beliebigkeit in die Namhaftigkeit rief. Doch wo
sollte er sich zeigen? Nicht stark, mächtig und aufbrausend war er. Nicht mit
Gewalt musste er herrschen, nicht mit Tod und Untergang. Du hättest es wissen
müssen. Dein Kopf und Dein Herz und Deine Seele. Er braucht nicht Sturm, nicht
Beben, nicht Feuer sich zu zeigen. Er braucht nicht in den Untergang zu führen,
aus dem er Dich doch herausführte. Er braucht nicht zu ängstigen und nicht zu
gefährden, denn er ist die Überwindung der Angst und der Gefährdung. Du hättest
es wissen müssen, wenn Deine Augen und Deine Ohren und Dein Mund offen und
zugänglich sind. Er braucht nicht zu beeindrucken durch einen donnernden
Auftritt. Er ist. In sich. Doch das war ihm nicht genug. Er ist. In sich. Und
machte sich doch selbst zur Mitteilung. Er sprach sich von sich aus Dir zu,
indem er Dich rief und anrief und herausrief. Er selbst entschied. Dich zu
rufen, anzusprechen und Dich Dir zu zeigen. Und Du stehst, an den Felsen
gedrängt. Gerade hast Du den Sturm vorbeibrausen erlebt, doch er hat Dich nicht
erfasst. Du hast die Erde unter Dir im Beben erzittern spüren, doch es hat Dich
nicht verschlungen. Du hast das Feuer vorüberbrausen erlebt, doch es hat Dich
nicht erfasst. Du bist heil. Doch die Angst sitzt Dir in den Knochen. Du rührst
Dich nicht von der Stelle. Es hat Deinem Vertrauen nichts anhaben können. Oder
vielleicht hat das Erleben Dein Vertrauen gestärkt und Dich aufleben lassen. Du
wusstest Dich gehalten – und die Tiefe dieser Wahrheit hat sich im Erleben
erwiesen. Du erwartest das Antlitz. Wie solltest Du es Dir vorstellen? Es
erscheint Dir, vor Dir, und es ist die Sanftheit und die Milde, das dem Anruf
inhärente, es ist eine Stimme, die Du nicht nur ahntest, sondern wusstest, eine
Stimme, die Dich Dir erfahrbar gemacht hatte, die Dir ward, der Du wardst, und
sie ist mild wie ein Mailüftchen, und doch so stark, dass sie Dich durch Dein
Leben trägt. Sie ist sacht, wie die Berührung der Mutter auf Deiner Haut, die
Dich doch bis ins Innerste durchdringt. Sie ist warm, wie der Regen im Juli,
der Deine Haut benetzt und kühlt, doch wohltuend und erfrischend. Sie ist die
Stimme des Schweigens, das alles Sagbare, alles Wortbare umfasst und in sich
fasst. Es ist so unscheinbar wie der Atem und der Herzschlag und doch so
tragend und lebensnotwendig. Das Antlitz als zugewandtes, dessen, der Dich rief
und herausrief, ist nicht die Härte, die Strenge und die Zucht. Sie ist die
Stimme des verschwebenden Schweigens. Stimme, die Dich ruft. Stimme, die in
aller Eindeutigkeit Dich meint. Stimme, die Dich ummantelt wie der Morgen und
der Abend und die Sonne und der Mond und die Sterne, liebende, sanfte, wohlig
warme Stimme. Es ist die Stimme, die sich sanft erhebt und verschwebt, sich
auflöst und immer neu findet und verbindet. Es ist die Stimme verschwebenden
Schweigens, erhebend, verwehend, und doch Dich in Deinen Grundfesten mehr
zersplitternd als der Sturm, Dich in Dir selbst mehr erschütternd als das Beben
und Dich mehr liebend verzehrend als das Feuer. Das Schweigen, das dem
Verschweben der Stimme folgt, ist die Offenheit, in die Du zu antworten
vermagst, den Wort dem Wort hinzuzufügen, selbst Wort geworden, dem Wort
anschließend, das sich Dir sprach, zeigte und zu erkennen gab. Das Antlitz ward
in der Stimme verschwebenden Schweigens. Am Ende der Zeit der Reife, der Zeit
der Prüfung, der Zeit der Erziehung konntest Du es annehmend verstehen.
[1] 1. Kön. 19,12b. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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