Die Botschaft
Jona begann in die
Stadt hineinzugehen, eine Tageswanderung, und rief, er sprach: Noch vierzig
Tage, und Ninive wird umgestürzt![1]
Ich erreichte Ninive, die Stadt, in der sich das Böse
niedergelassen hatte. Die Menschen begingen jede Art von Schandtaten. Sie
hatten auf den Ruf vergessen, der sie in die Einzigartigkeit des Menschseins
herausgerufen hatte. Und dieser Ruf ist immer auch Auftrag in sich. So wie wir
gerufen sind selbst zu sein, so ist es sogleich Beauftragung Dich in Deinem
Selbstsein anzunehmen und zu befördern. Gabe und Auftrag, Auftrag und Gabe.
Zusage und Verpflichtung, Verpflichtung und Zusage. Und ganz gleich welches
Verbrechen es ist, letztlich erwächst alles Böse der einen Wurzel, dem Verlust
der Namhaftigkeit und des Vermögens Du zu sagen, mit der Gesamtpersönlichkeit. Das
Böse erwächst der Abwendung von Dir, der Verdinglichung der anderen Person und
die Umwendung vom personalen Miteinander zu einer Beziehung zwischen Nutzer und
Benutzen. Dort, wo ich Dich als Du selbst, in Deinem Eigen-sein aus dem Blick
verliere, dort beginnt das Böse, das die Abspaltung forciert und die Gräben
öffnet. Person wird zu Ding und das Ding, das wird nach seinem Gebrauchswert
gewichtet, so wie eine Maschine oder ein Stuhl. Nichts mehr bist Du dann. Ein
Stuhl. Mir zum Nutzen. Und wenn ich Dich niederdrücke, dann indem ich Dich
benutze wie einen Stuhl. Und so kam ich nach Ninive, den Menschen die Augen zu
öffnen, denn was lange währt wird zur Gewohnheit. Trägheit. Vergessen, und der
Blick, der das Gestern nicht kennt, ist blind für die Möglichkeiten des
Morgens, so dass er sich stumpf und abgenutzt ewig im Gleich suhlt und
vegetiert. Es bedarf der Stimme von außen, der Erinnerung an jene Zeiten, dass
die Menschen aufschauen und nachdenken über das Elend des selbstverschuldeten
Verlassen-seins, das Elend des vergessenen Mensch-seins. Doch ich kann nicht
mehr als die Botschaft bringen. Wird sie ankommen? Wird es jemanden geben, der
bereit ist die Ohren zu öffnen, sich abzuwenden vom derzeitigen Tun in eine
neue Möglichkeit, in ein neues, wiedererstandenes Miteinander? Würde meine
Mission Erfolg haben? Der Ausgang war offen, doch ich hatte mich anvertraut.
Ich sah die Menschen, nicht in ihrer Bosheit, sondern in ihrer Verlorenheit,
sah sie in ihrer Einsamkeit. Nicht zurechtweisend und belehrend war ich,
sondern zugewandt und ansprechend. Ich zeigte ihnen die Möglichkeiten und den
Weg des Lebens, und sie bekamen die Zeit, Zeit zur Reife, zur Prüfung, zur
Erziehung, bekamen Zeit sich wieder heranzutasten an das Lebendige. Ich war
nicht der mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern der, der die Hand reichte, und
mitnahm. Ich überfrachtete sie nicht, sondern senkte meine Botschaft in ihr
Herz wie einen Samen in die Erde, dass sie Wurzeln schlagen und wachsen
konnten. Die Umkehr war eine je persönliche Entscheidung, nicht vorgegeben,
sondern als Einladung. Und in den vierzig Tagen war es, dass die Wurzeln sich
verankerten und zarte Pflanze der Erneuerung sich erheben und entwickeln
konnte. Vierzig Tage zu wachsen und zu werden, zu erstarken und zu erblühen, und
sie öffneten ihr Herz Annahme zu werden. öffneten ihre Hände, geleitend zu
wirken, öffneten ihre Ohren die Worte des anderen zu vernehmen und öffneten
ihre Augen den anderen als ihn selbst wahrzunehmen. Und nach vierzig Tagen ward
eine Wandlung, und das Böse, die Trennung vergessen, ward ein neues
Miteinander, ein neues Verstehen und Annehmen. Vierzig Tage der Wandlung, so
dass es keinen Grund mehr gab die Stadt zu zerstören, und der, der uns in die
Lebendigkeit des Lebens rief, sah es mit Wohlwollen. Betrübt verließ ich die
Stadt. Es gab für mich nichts mehr zu tun. Ich hatte es angefangen, und doch
ward ich der Ausgeschlossene. Oder hatte ich mich ausgeschlossen?
[1] Jona 3,4. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen