1803 FastEndZeit (Teil 29):


Ausgeschlossen


Gott sah ihr Tun, dass sie umkehrten von ihrem bösen Weg, und leid wards Gott des Bösen, das ihnen zu tun er geredet hatte, und er tat es nicht.[1]

Vierzig Tage ging ich durch die Straßen Ninives. Wisst ihr es denn nicht mehr, dass ihr berufen seid, aus der Namenlosigkeit in die Bestimmung? Wisst ihr denn nicht mehr, dass ihr ins Miteinander berufen sind? Und zunächst trat Verwunderung in den Blick. Worüber sprach der, der im Auftrag dessen, der uns mit Namen rief, entsandt war? Was war der Sinn, der Inhalt seiner Botschaft? Es war, als wären sie in Trance, einen tiefen, traumlosen Schlaf des Dinglich-seins verhaftet. Und meine Worte kratzten zuerst nur an der Oberfläche. Sie hörten, aber verstanden nicht, zu Anfang. Nach und nach durchdrangen meine Worte den dicken Panzer der Apathie, den sie sich über die Jahre zugelegt hatten, scheibchenweise fiel er von ihnen ab, und die Haut kam zum Vorschein, junge, gesunde, rosige Haut, und ihre Ohren wurden frei. Die ersten Tage verstrichen, die ersten dieser vierzig, die ich durch Ninive strich und unermüdlich meine Botschaft, und langsam fand sich wieder Leben in ihren Augen, so dass ich weitersprach, ohne mich beirren zu lassen, während all der vierzig Tage. Die Ohren öffneten sich, so dass die Worte ankommen konnten, die Augen öffneten sich, dass sie sahen, und der Mund öffnete sich, dass sie antworteten. Aus den Verstrickungen in sich selbst erwachten sie in die Offenheit. Waren sie stumpf und unzugänglich gewesen, so rüttelte ich an ihnen bis sie daraus hervorstiegen, aus der Nichtigkeit und Selbstbezogenheit in ein neues Verstehen. Ja, es war einmal gewesen. Von Ferne kam die Erinnerung zurück, und auch daran, wie reich und erfüllt das Leben damals war, in der Namhaftigkeit, und wahrhaftig, ich erreichte sie. Es gelang mir. Tag um Tag, Nacht und Nacht, mit aller Kraft, mit allem Vertrauen, verbreitete ich diese Botschaft, war ich die Botschaft, denn ich selbst ward ein Gerufener, der dem Wort der Freiheit zunächst widersprochen hatte. Aus Angst? Aus Bequemlichkeit? Ich wurde dennoch eingeholt und befreit. Das wollte ich weitergeben. Ich wollte wohl auch ein Musterschüler sein, und nach und nach folgten mir die Menschen, folgten mir, indem sie mich hörten, bis sie zum Verstehen vordrangen. Und das Verstehen lenkte ihren Blick auf die Menschen neben ihnen und sie fanden sich wieder ein in ein erfülltes Miteinander, denn sie folgten meinen Worten auch in ihren Taten. Abkehr forderte ich von ihnen, vom Bösen, aus der Namenlosigkeit, der stumpfen Verlorenheit in ein Verstehen, das zur Tat wird, das Tat ist, und Zuwendung und anpackendes Miteinander, das die Hand reichen lässt, den Weg gemeinsam weiter zu gehen. Ich musste erleben, dass die Menschen sich bekehrten in diesen vierzig Tagen. Ich hatte Erfolg. Bald würden sie mich nicht mehr brauchen. War ich doch nicht mehr als der Bote, der die Botschaft brachte, vom nahenden Ende, und diese hatte ich ihnen gegeben, die Botschaft und die Zeit zu reifen, sich zu prüfen, sich zu erziehen. Und sie hatten sie genutzt. Alles würde gut gehen. Ninive würde weiter bestehen, würde nicht vernichtet, weil ich Erfolg hatte, und mit meinem Erfolg machte ich mich selbst überflüssig. Ich war froh, dass es so war, doch ich fühlte ich benutzt und ausgeleert, denn die Menschen bedankten sich wohl, aber dann wandten sie sich einander zu und vergaßen auf mich, als hätte ich niemals existiert. Ich hatte meine Schuldigkeit getan. Ich konnte gehen. Und Groll wuchs in meinem Herzen. Nein, es war kein Erfolg, es war ein Verlust im Erfolg, den ich erzielt hatte. Ich hatte mich selbst überflüssig damit gemacht.  Und ich zog mich zurück, schmollend und desillusioniert, und dabei hatte ich es doch gewusst, von allem Anfang an gewusst, dass ich derjenige sein würde, der verliert, seinen Wert und seine Würde, an den Undank der Welt. Hättest Du mich doch niemals berufen. Hättest Du mich doch niemals gesehen, dann wäre ich verblieben, und hätte mich niemals verschenkt.


[1] Jona 3,10. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.

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