Ausgeschlossen
Gott sah ihr Tun, dass
sie umkehrten von ihrem bösen Weg, und leid wards Gott des Bösen, das ihnen zu
tun er geredet hatte, und er tat es nicht.[1]
Vierzig Tage ging ich durch die Straßen Ninives. Wisst ihr
es denn nicht mehr, dass ihr berufen seid, aus der Namenlosigkeit in die
Bestimmung? Wisst ihr denn nicht mehr, dass ihr ins Miteinander berufen sind?
Und zunächst trat Verwunderung in den Blick. Worüber sprach der, der im Auftrag
dessen, der uns mit Namen rief, entsandt war? Was war der Sinn, der Inhalt
seiner Botschaft? Es war, als wären sie in Trance, einen tiefen, traumlosen
Schlaf des Dinglich-seins verhaftet. Und meine Worte kratzten zuerst nur an der
Oberfläche. Sie hörten, aber verstanden nicht, zu Anfang. Nach und nach
durchdrangen meine Worte den dicken Panzer der Apathie, den sie sich über die
Jahre zugelegt hatten, scheibchenweise fiel er von ihnen ab, und die Haut kam
zum Vorschein, junge, gesunde, rosige Haut, und ihre Ohren wurden frei. Die
ersten Tage verstrichen, die ersten dieser vierzig, die ich durch Ninive strich
und unermüdlich meine Botschaft, und langsam fand sich wieder Leben in ihren
Augen, so dass ich weitersprach, ohne mich beirren zu lassen, während all der
vierzig Tage. Die Ohren öffneten sich, so dass die Worte ankommen konnten, die
Augen öffneten sich, dass sie sahen, und der Mund öffnete sich, dass sie
antworteten. Aus den Verstrickungen in sich selbst erwachten sie in die
Offenheit. Waren sie stumpf und unzugänglich gewesen, so rüttelte ich an ihnen
bis sie daraus hervorstiegen, aus der Nichtigkeit und Selbstbezogenheit in ein
neues Verstehen. Ja, es war einmal gewesen. Von Ferne kam die Erinnerung
zurück, und auch daran, wie reich und erfüllt das Leben damals war, in der
Namhaftigkeit, und wahrhaftig, ich erreichte sie. Es gelang mir. Tag um Tag,
Nacht und Nacht, mit aller Kraft, mit allem Vertrauen, verbreitete ich diese
Botschaft, war ich die Botschaft, denn ich selbst ward ein Gerufener, der dem
Wort der Freiheit zunächst widersprochen hatte. Aus Angst? Aus Bequemlichkeit?
Ich wurde dennoch eingeholt und befreit. Das wollte ich weitergeben. Ich wollte
wohl auch ein Musterschüler sein, und nach und nach folgten mir die Menschen,
folgten mir, indem sie mich hörten, bis sie zum Verstehen vordrangen. Und das
Verstehen lenkte ihren Blick auf die Menschen neben ihnen und sie fanden sich
wieder ein in ein erfülltes Miteinander, denn sie folgten meinen Worten auch in
ihren Taten. Abkehr forderte ich von ihnen, vom Bösen, aus der Namenlosigkeit,
der stumpfen Verlorenheit in ein Verstehen, das zur Tat wird, das Tat ist, und
Zuwendung und anpackendes Miteinander, das die Hand reichen lässt, den Weg
gemeinsam weiter zu gehen. Ich musste erleben, dass die Menschen sich bekehrten
in diesen vierzig Tagen. Ich hatte Erfolg. Bald würden sie mich nicht mehr
brauchen. War ich doch nicht mehr als der Bote, der die Botschaft brachte, vom
nahenden Ende, und diese hatte ich ihnen gegeben, die Botschaft und die Zeit zu
reifen, sich zu prüfen, sich zu erziehen. Und sie hatten sie genutzt. Alles würde
gut gehen. Ninive würde weiter bestehen, würde nicht vernichtet, weil ich
Erfolg hatte, und mit meinem Erfolg machte ich mich selbst überflüssig. Ich war
froh, dass es so war, doch ich fühlte ich benutzt und ausgeleert, denn die
Menschen bedankten sich wohl, aber dann wandten sie sich einander zu und
vergaßen auf mich, als hätte ich niemals existiert. Ich hatte meine
Schuldigkeit getan. Ich konnte gehen. Und Groll wuchs in meinem Herzen. Nein,
es war kein Erfolg, es war ein Verlust im Erfolg, den ich erzielt hatte. Ich
hatte mich selbst überflüssig damit gemacht.
Und ich zog mich zurück, schmollend und desillusioniert, und dabei hatte
ich es doch gewusst, von allem Anfang an gewusst, dass ich derjenige sein
würde, der verliert, seinen Wert und seine Würde, an den Undank der Welt.
Hättest Du mich doch niemals berufen. Hättest Du mich doch niemals gesehen,
dann wäre ich verblieben, und hätte mich niemals verschenkt.
[1] Jona 3,10. Aus: Die Schrift, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam
mit Franz Rosenzweig. Gerlingen: Schneider, 1997.
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