Mittelmaß
Danach zog Jesus in Galiläa
umher; denn er wollte sich nicht in Judäa aufhalten, weil die Juden darauf aus
waren, ihn zu töten.[1]
Wunder hatte er gewirkt. Die Menschen hatten es gesehen.
Nicht, dass es für Ihn notwendig gewesen wäre, denn Er wusste um Seine
Bestimmung und Seine Herkunft, aber die Menschen sind klein und geduckt, weil
sie sich klein und geduckt halten lassen, von der Obrigkeit, die ihnen sagt was
sie zu tun haben. Statt selbst zu sehen. Selbst zu hören. Selbst zu verstehen.
Sie wagen es nicht mehr ihren eigenen Sinnen zu vertrauen, weil ihnen allzu
lange gesagt wurde, dass ihre eigenen Empfindungen nichts taugten. Ja, als
Kinder, da waren sie unbekümmert, sahen, hörten und verstanden mit kindlicher
Unbekümmertheit und Selbstverständlichkeit, doch dann wurde ihnen gesagt, dass
das nicht stimme. Zuerst waren sie verwirrt, stutzen vielleicht, doch die, die
das sagten, hatten sich als Autoritäten ausgewiesen. Konnten sie es denn wagen
an diesen Autoritäten zu zweifeln? Und vor allem, wenn alle das gleiche sagten,
dann musste das doch stimmen, und so begannen sie sich von ihren eigenen
Gedanken zu distanzieren, ihren eigenen Empfindungen zu misstrauen, bis sie die
Gedanken, die ihnen eingetrichtert wurden für ihre eigenen hielten und die
aufoktroyierten Empfindungen für echt. Doch was bleibt vom Menschen, wenn ihm
seine Gedanken und Empfindungen genommen werden? Er reiht sich ein in die lange
Reihe des Mittelmaßes, gehen den Mittelweg und leben ein Mittelleben. Doch dann
kam Er, der ihnen sagte, hört mir zu, doch hört es mit euren eigenen Ohren, und
nicht mit dem Filter, der euch eingesetzt wurde. Seht mich an, doch seht mich
mit euren eigenen Augen, und nicht mit den Scheuklappen, die euch aufgezwungen
wurden. Versteht meine Worte, doch versteht sie mit euren eigenen Gedanken, und
nicht mit denen, die euch aufgebürdet wurden. Da war einer, der widersprach,
der vor den Kopf stieß, und dieses Gebäude aus Lügen zum Einsturz brachte, der
die Wahrheit hinter der Fassade aufdeckte, der die Menschen meinte und nicht
die glanzlose Hülle, die der Manipulation anheimgefallen ist. Sie verkünden die
Wahrheit und sind doch durch und durch Falschheit. Sie predigen die Tugend und
frönen doch den Lastern. Sie versprechen euch Freiheit und nehmen euch in ihre
Knechtschaft. Ihr wagt es nicht den Kopf zu heben und zu widersprechen. Zu
mächtig sind sie. Ihr fürchtet um euer Auskommen, um Leib und Leben, wenn ihr
nicht befolgt, was auch die Obrigkeit sagt, aber Er wagte es. Das Volk wurde
hellhörig. Waren wir dafür aus Ägypten geflohen, aus der Knechtschaft, um nun
in der Knechtschaft der eigenen Leute zu landen? Doch da war der, der ihnen das
Joch abnahm, und sie von falschen Propheten und Lehren befreite. Das machte
denen Angst, die sehr gut lebten, von der Unterwürfigkeit der Menschen. Er machte
ihnen Angst, weil Er sich nicht klein machen ließ und vor ihnen duckte, sondern
ihnen hoch erhobenen Hauptes entgegen trat, ihnen die Stirn bot und hinter die
Fassade blickte. Das konnten sie nicht dulden. Und weil die Macht auf ihrer
Seite stand, musste er fliehen, denn es war noch nicht die Zeit gekommen zu
sterben, doch ein erster Schritt war getan. Die Menschen waren aufgerüttelt.
Einige folgten Ihm, auch in die Emigration, folgten Ihm, denn Er war es, der
ihnen die Kraft schenkte durchzuhalten, der ihnen die Angst nahm und ihnen
zeigte, dass ihre Gedanken und Empfindungen richtig waren, dass sie in der Lage
waren aufrecht zu gehen und selbst zu sein. Auch Er hatte sie beim Namen
gerufen, zu sich, in ein freies, erfülltes Leben.
[1] Joh. 7,1.
Aus: Die Bibel in der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Hg. von
Interdiözesanen Katechetischen Fonds. Verlag Österreichisches Katholisches
Bibelwerk Korneuburg
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