Wer ist Er?
Die Juden suchten beim
Fest nach ihm und sagten: Wo ist er? Und in der Volksmenge wurde viel über ihn
hin und her geredet. Die einen sagten: Er ist ein guter Mensch. Andere sagten:
Nein er führt das Volk in die Irre.[1]
Die meisten Menschen führen ein langes Leben in tiefem
Schlaf, ein Leben, das sie nicht selbst bestimmen, sondern sich von anderen
bestimmen lassen, weil es so viel einfacher ist. Nur nicht auffallen, brav
kuschen und unterwerfen. Dann hat man auch nichts zu befürchten. Es hatte
einmal eine egalitäre Gesellschaft gegeben. Man setzte sich zusammen und
beredete alles miteinander, bis eine Lösung gefunden worden war, die für alle
passte. Keine faulen Kompromisse, keine lauwarmen Einläufe, sondern echte,
lebbare Lösungen, doch das Volk wuchs, und umso mehr sie wurden, desto
schwieriger wurde die Entscheidungsfindung. Sie begannen nach einer Obrigkeit
zu verlangen, nach einem König, einem, der ihnen die Entscheidungen abnahm,
auch für ein eigenes Leben. Da gibt es doch Männer, die klüger sind und mehr
Weitblick haben. Ich muss meine Schafe versorgen und meine Felder bestellen und
meine Frau bewachen. Ich habe keine Zeit dafür. Soll der das doch für mich
entscheiden. Und so bekamen sie die Obrigkeit, nach der sie verlangten, und
während sie ihre Schafe versorgten und die Felder bestellten und ihre Frauen
bewachten, weitete der König seinen Einflussbereich immer mehr aus. Er traf
bald nicht mehr nur die Entscheidungen, die für das gesamte Volk notwendig
waren, sondern er traf sie auch für ihr Leben. immer mehr Vorschriften wurden
aufgestellt, immer enger wurde der Kreis, in dem sich die Menschen bewegen durften.
Doch das schaffte der König nicht allein. Er brauchte Beamte, die seine
Entscheidungen exekutierte, brauchte ein Heer, das seine Macht sicherte, nicht
nur nach außen, sondern vor allem auch nach innen. Und wer nicht seiner Meinung
war, der wurde inhaftiert, so dass deren Aufmüpfigkeit nicht auf andere
übergreifen konnte, denn es handelt sich um eine sehr ansteckende Krankheit.
Doch dann kam Er, der die Machthabenden in ihren Grundfesten erschütterten.
Nicht durch Gewalt, sondern durch Sanftmut und Güte, durch die Wahrheit, und
weil sie es nicht zulassen konnten, musste Er sich vor den Schergen der Macht
in Sicherheit bringen. Aber er hatte etwas ausgelöst, in allen, die Ihn gesehen
hatten, in allen, denen über Seine Taten und Seine Worte berichtet wurde.
Niemand konnte Ihm gegenüber gleichgültig bleiben. Er veränderte etwas in
ihnen, das sie nicht so recht zu deuten vermochten, das ihnen auch Angst
machte, wie einem Löwen, der in einem Käfig geboren wurde und niemals die
Freiheit gesehen hat, plötzlich erkennt, dass es sie gibt. Man meint, er freut
sich darüber, doch er kann damit nicht wirklich umgehen, weil er sie nicht
kennt. Er kennt nur die Gefangenschaft, so wie die Menschen, denen Er
begegnete, nur die Gefangenschaft kannten und nun Angst bekamen, vor einer
Freiheit, die so umfassend sein soll, und doch auch Halt und Wärme versprach.
Es war schwer für sie sich vorzustellen, dass es so etwas geben konnte, dass es
so etwas für sie geben konnte. Nur der Zuwendung bedurfte es. Nichts weiter,
und doch erforderte es ihren ganzen Mut. Auflehnung gegen die religiöse
Obrigkeit. Auflehnung gegen die staatliche Obrigkeit. Es klang alles so
gefährlich. Manche wagten den Schritt, denn sie vermochten sich Ihm
anzuvertrauen, weil sie erfuhren, dass Er die Freiheit brachte. Andere jedoch,
bei denen die Angst die Oberhand behielt, die behaupteten, dass Er das Volk in
die Irre führte, und Er ließ sie gewähren, denn Er verlangte eine echte
Entscheidung, eine freie Entscheidung – auch wenn sie sich gegen Ihn entschieden,
so war es ihre Entscheidung. Doch es waren immer noch genug, die ihre Schafe
hüteten und ihre Felder bestellten und ihre Frauen hüteten. Es war ihnen genug.
Mehr Freiheit ertrugen sie nicht.
[1] Joh. 7,11f. Aus: Die Bibel in der
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Hg. von Interdiözesanen
Katechetischen Fonds. Verlag Österreichisches Katholisches Bibelwerk Korneuburg
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