Rückzug
Jesus bewegte sich von
nun an nicht mehr öffentlich unter den Juden, sondern zog sich von dort in die
Gegend nahe der Wüste zurück, an einen Ort namens Efraim. Dort blieb er mit
seinen Jüngern.[1]
Nur Er und seine Vertrauten. Alleine in der Wüste. Von dort
war Er ausgegangen. Dorthin kehrte Er zurück. In der Stille, in der Zurückgezogenheit
fand Er Kraft. Es galt so vieles zu überdenken, und doch wusste Er, der Weg war
vorgezeichnet. Bald schon würde Er zurückkehren, unter die Menschen. Doch es
war mehr als das. Es war nicht die Ruhe des Weisen, der sich stärkte,
unbehelligt. Sie trachteten Ihm nach dem Leben. Er war unbotmäßig gewesen. Sie
würden es Ihm nicht verzeihen. Sie konnten es Ihm nicht verzeihen. Der Mächtige
hat seine Macht, weil es Ihm gelingt das Volk nieder zu drücken, doch das Volk
lauert, wartet auf Zeichen der Schwäche, die es ausnutzen könnte, um sich zu
erheben und Ihm die Macht wegzunehmen. Macht ist nicht für immer. Sie muss
erobert werden, doch dann kann sich der Machthaber nicht einfach zurücklehnen
und genießen, was er erobert hat. Er muss immer damit rechnen, dass ein anderer
ähnliche Ambitionen hat. Hat er seinen Vorgänger ermordet, so ist nicht gesagt,
dass ihm nicht das gleiche Schicksal droht. Immer wieder muss er seine Stärke
unter Beweis stellen und Exempel statuieren. Vielleicht ist es einfach nur ein
symbolischer Akt, doch er signalisiert den Menschen, dass er es sich nicht
gefallen lässt, Aufbegehren gegen ihn. Und schon gar nicht von so einem
kleinen, dahergelaufenen Zimmermann. Er bringt doch die Strukturen
durcheinander, wenn Er die Händler aus dem Tempel wirft, wenn Er zeigt, dass
die Pharisäer und Schriftgelehrten Heuchler sind. Dagegen muss eingeschritten
werden. So muss Jesus um Sein Leben bangen. Er weiß es. Er durchschaut die
Strukturen und die Ambitionen, die dahinter stecken. Der Mensch ist so einfach
zu durchschauen. Was ihm gefällt, das will er haben. Was er hat, will er
behalten. Da darf keiner kommen und das einfach vernichten. Mit allen Mitteln
wird er dagegen vorgehen, mit all seiner Kraft die Pfründe verteidigen, so
unrechtmäßig dieses Eigentum auch sein mag. Schlaft, ihr Massen, schlaft euer
Leben weiter, und alles ist gut. Doch Er, Er hatte die Kraft und den Mut sie
aufzuwecken, wachzurütteln und ihnen zu zeigen, dass es auch anders sein
könnte. Noch waren sie verunsichert, doch es musste verhindert werden, dass sie
ganz erwachten, dass sie sich ihrer Kraft und ihrer Möglichkeiten bewusst
wurden. Sie sollten sein wie die Kinder, die ein Spielzeug bekommen uns sich
damit beschäftigen. Sie sollen nicht aufblicken, nicht sehen. Doch Er forderte
sie dazu auf. Es arbeiteten zwei widerstreitende Kräfte gegeneinander, die
keinen Konsens finden konnten. So musste sich Jesus vor ihnen verstecken, in
der Wüste, die zwar Gefahren bot, aber weit nicht so viele wie die Schergen,
die im Schatten des Mächtigen gut lebten. Er musst fliehen, weil Er die
Menschen zu sich selbst befreien wollte, weil Er ihnen einen Weg wies, der
anders war, als der bisherige. Umsturz. Systemwandel. Weder Herr noch Knecht.
Der Traum von der egalitären Gesellschaft. Weder Oben noch Unten. Alle Menschen
gleich an Wert und Würde. Das durfte man nicht zulassen. Alles würde
untergehen. Die schönen Strukturen zusammenbrechen. Das war der Grund, warum
Jesus fliehen musste und um Sein Leben bangte. Sie fanden Ihn nicht. Es war
noch nicht Seine Zeit. Noch war es die Vorbereitung auf den eigentlichen
Umsturz, der erst kommen musste. Unausweichlich. Das kleinste Geräusch ließ Ihn
aufschrecken. Überall lauerte Gefahr, bis zu dem Moment, da Er sich dieser
stellte.
[1] Joh. 11,54. Aus: Die Bibel in der
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Hg. von Interdiözesanen
Katechetischen Fonds. Verlag Österreichisches Katholisches Bibelwerk Korneuburg
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