Maria von Magdala
Sechs Tage vor dem
Paschafest kam Jesus nach Betanien, wo Lazarus war, den er von den Toten
auferweckt hatte. Dort bereiteten sie ihm ein Mahl; Marta bediente, und Lazarus
war unter denen, die mit Jesus bei Tisch waren. Da nahm Maria ein Pfund echtes,
kostbares Nardenöl, salbte Jesus die Füße und trocknete sie mit ihrem Haar. Das
Haus wurde vom Duft des Öls erfüllt. Doch einer von seinen Jüngern, Judas
Iskariot, der ihn später verriet, sagte: Warum hat man dieses Öl nicht für dreihundert
Denare verkauft und den Erlös den Armen gegeben? Das sagte er aber nicht, weil
er ein Herz für die Armen gehabt hätte, sondern weil er ein Dieb war; er hatte
nämlich die Kassa und veruntreute die Einkünfte. Jesus erwiderte: Laß sie,
damit sie es für den Tag meines Begräbnisses tue.[1]
Du tratst ein, gingst geradewegs auf Ihn zu, direkt vor Ihm
stehenzubleiben, das alabasterne Gefäß sicher umfasst, aufrecht und stark.
Seine blauen Augen richteten sich auf Dich, Sein Blick umarmte Dich in aller
Fülle. Nein, so einem Mann warst Du noch nie begegnet, so einem Mann würdest Du
nie mehr begegnen, und doch, so sehr Du wünschtest und hofftest, Du wusstest,
Er würde nicht lange bei Dir bleiben, bleiben können.
Du ließt Dich nieder, vor Ihm nieder, auf die Knie, und Er
wehrte es nicht.
Vorsichtig entferntest Du den Deckel von dem alabasternen
Gefäß, und sofort verströmte der durchdringende Geruch des Nadelöls. Alle
Gespräche verstummten, aller Augen waren auf Dich gerichtet, doch Du merktest
es nicht, denn Du, Du hattest nur Augen für Ihn.
Du übergosst Seine Füße mit dem kostbaren Nadelöl aus dem
alabasternen Gefäß, und Er wehrte es nicht.
„Öl im Wert von 300 Denaren.“, raunte es durch den Raum.
„Wie viel Brot hätte man kaufen können, die Armen zu
verköstigen, um 300 Denare.“, mahnte eine Stimme.
„Ein Familienvater hätte die Seinen und sich ein Jahr lang
ernähren können, 300 Denare.“, flüsterte eine andere Stimme.
„Welch eine Verschwendung!“
„Welch ein Frevel!“
„Welch eine Sünde!“
„300 Denare – Verschwendung – 300 Denare – Sünde – 300
Denare – Frevel“, deklamierten die Stimmen.
Donner und Dröhnen und Donner und Dröhnen. Immer schneller.
Immer heftiger. Und Du?
Du salbtest Seine Füße mit dem kostbaren Öl, und Er wehrte
es nicht.
„Herr, willst Du denn nicht hören?“, raunte es durch den
Raum.
„Herr, willst Du dieser Frau nicht Einhalt gebieten?“,
mahnte eine Stimme.
„Herr, willst Du uns denn nicht anhören?“, flüsterte eine
andere Stimme.
„Was sagst Du?“
„Was tust Du?“
„Was befiehlst Du?“
Du trocknetest Seine Füße mit Deinem lagen, vom Tuch
befreiten Haar, und Er wehrte es nicht.
Still rannen Deine Tränen über Dein Gesicht, auf Seine Füße,
und Er, Er kniete sich neben Dich, fasste Dein Kinn und hob Deinen Blick in den
Seinen. Sanft fassten Seine Hände die Deinen und Seine Lippen umschlossen die
Deinen. All die Zugewandtheit und Liebe lang in diesem Kuss. Darin öffnete Er
Dein Herz, und Deine Liebe war wie ein wilder Reiter, der, schneller als der
Wind, alle Winkel dieser Erde erreichte, alles Erlebte im Gestern, im Heute, im
Morgen umspannend. Nichts und niemandem verschloss sich diese Liebe. Nichts und
niemandem war sie verwehrt.
Er küsste Dich, und Du wehrtest es nicht.
„Willst Du mit mir gehen, mit mir bis zu jener
Unausweichlichkeit?“, fragte Er Dich.
„Ich will mit Dir gehen, bis zu jener Unausweichlichkeit,
und noch weit darüber hinaus.“, antwortetest Du.
„Gut, dann lass uns den Weg gehen, der Dir und mir
vorbestimmt ist.“, sagte Er.
So nahm Er Dich an der Hand und ging mit Dir weg, und Du
wehrtest es nicht.
[1] Joh. 12,1-7. Aus: Die Bibel in der
Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Hg. von Interdiözesanen
Katechetischen Fonds. Verlag Österreichisches Katholisches Bibelwerk Korneuburg
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