Würdigung der Belanglosigkeit
„Wie viel Jahre sind es jetzt? Wie viel Zeit ist vergangen
seit jenem Tag, mag man ihn nun als verheißungs- oder als verhängnisvoll
sehen?“, frage ich Dich, als wir auf der Terrasse sitzen und den Blick in die
Ungewissheit fliegen lassen.
„Eine Frage der Anschauung“, erklärst Du.
„Eine Frage des Geschmacks. Also wie viel?“, meine ich.
„Eine Frage des Zeitpunkts“, erläuterst Du.
„Jetzt, und hier, frage ich Dich, wie lange?“, hake ich
nach.
„Heute, jetzt, hier, weder, noch, weder verheißungs- noch
verhängnisvoll. Wir haben beides hinter uns, die Verheißung und das Verhängnis,
nach bald 20 Jahren“, antwortest Du endlich, ohne den Blick zu bezähmen. Ich
tue es auch nicht.
„Fast zwanzig Jahre. Es spielt keine Rolle mehr, ein Jahr
auf oder ab, nach fast zwanzig Jahren. Früher war das anders“, sage ich
schlicht.
„Am Anfang, da war es anders, da zählte jeder Tag, jede
Minute, ja der kleinste Augenblick, entschied scheinbar über Gedeih oder
Verderb, versetzte in Euphorie oder in tiefste Seelenqualen, aber heute, da fließt
es. Es spielt keine Rolle mehr“, erklärst Du.
„Damals, verkrampft, verkeilt ineinander, die Welt
ausschließend, die sich doch immer und immer wieder einschleichen wollte, die
uns nicht in Ruhe ließ, und dabei wollten wir doch nur bloß das, die Welt draußen
und wir drinnen, ganz für uns, am besten für immer“, erinnere ich mich.
„Aber es ist nicht auszuhalten, nicht einmal für längere
Zeit, und dann erst für immer? Es war so viel Verheißung in Deinem Blick, in
Deiner Zuversicht, in Deinem Lieben ...“
„So wie in Deinem Blick, in Deiner Zuversicht, in Deinem
Lieben“, werfe ich ein.
„Doch man wird misstrauisch. Vollkommen, das geht nicht.
Doch das war es was wir wollten, aber es geht nicht. Man kann nicht immer
glücklich sein, und dann noch erwarten, dass es der andere im Gleichklang ist.
Und wir merkten, dass es nicht geht. Das machte uns wütend“, sagst Du.
„Ja, zunächst wütend, dann kam die Enttäuschung, das
Auseinanderdriften, und dann die Vorwürfe. Man hätte es nicht genug probiert.
Man würde nicht genug lieben. Und man wollte dieses Verheißungsvolle wieder
haben. Krampfhaft sich daran festkrallen, was schon längst verloren ist, bis
sich die Nägel ins Fleisch bohren und die Knöchel schmerzen“, erkläre ich.
„Und dann, dann schafft man es endlich, die Hände zu öffnen,
loszulassen, gar nicht mal aus Überzeugung, sondern, weil die Verkrampfung
auslaugt und verbraucht. Man lässt los, weil man erschöpft ist, um zu merken,
dass da gar nichts mehr war, das man hielt. Und dann meint man, man stünde mit
leeren Händen da, völlig leer, und man sieht sich mitten im Verhängnis“, sagst
Du überlegt.
„Aber dann hört man auf, man hört auf zu erwarten und zu
fordern und sich in Vorstellungen festzukrallen, die noch nicht einmal die
eigenen sind, sondern solche, die man irgendwo gelernt hat. Man meint, jetzt
ist es ganz egal. Es kommt nichts mehr, schon gar nichts Besseres. Man lehnt
sich zurück und nimmt es so wie es ist“, erkläre ich.
„Und wenn man losgelassen hat, endlich, und sich nicht mehr
verkrampft, sondern entspannt, und wenn man sich von allem gelöst hat und
vorurteilsfrei umsieht, erkennt was ist, als das, was es ist, dann erkennt man
endlich, dass dies die beste aller Möglichkeiten ist“, sagst Du.
„Und man hatte sie schon immer, nach fast zwanzig Jahren
auch noch, und auch nach fünfzehn oder zehn oder fünf, ungefähr oder genau. Es
war immer da. Vielleicht erschien es einfach zu banal, zu belanglos um ein
Leben zu tragen“, erkläre ich.
„Aber das Leben muss nicht getragen werden und der andere
nicht ertragen, sondern in der scheinbaren Belanglosigkeit des ewig Gleichen
angenommen. So liebe ich Dich, inmitten des banalen und einfachen“, sagst Du.
„Ich liebe Dich, weil Du mit mir die Banalität teilst und
die Belanglosigkeit an Würde gewinnt, denn das Leben selbst ist nicht auf eine,
einzelne heroische Tat fixiert und damit getan, sondern auf das Durchhalten des
Währenden, durch all die Jahre“, erkläre ich, und die Stille umschließt uns.
Voller Ansprüche, und doch gänzlich anspruchslos, voller Ziele, und doch
ziellos, leben wir, weil wir die Liebe würdigen gerade in ihrer
Belanglosigkeit.
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