Ich sehe Dich
Es war an einem jener Abende, an denen man meint nichts mehr
zu erwarten zu haben. Wie glanzvoll das klingt, ein Ball, in der nobelsten
Destination dieser Stadt. Streng ging es zu. Gedämpfte Farben und ebensolche
Gespräche beherrschten die Szene. Selbst das Lachen war verhalten, wenn
überhaupt vorhanden, künstlich und plastikhaft. Für wen nur machte sie diese
Maskerade mit. Ihr schwarzes, hochgeschlossenes Kleid schnürte sie ein. Was
hatte sie sich erwartet? Ein Gesichtsbad halten, hieß es, Leute treffen, die
für ihr berufliches Vorwärtskommen von Vorteil sein könnten. Der Small-talk
machte sie müde. Es strengte sie an lächelnd über die Dinge zu sprechen, die
kein Wort wert waren, sich Geschichten von Menschen anzuhören, die sie nicht
kannte. Erschöpft ließ sie sich an der Bar nieder. Ihr Kopf spannte, so fest
hatte sie ihr Haar gebunden, dass auch nicht das kleinste Härchen sich löste.
„Einen doppelten Espresso, bitte“, wies sie den Kellner an. Jetzt, eine Zigarette
anzünden, dachte sie noch, aber das gab es ja nicht mehr. Überall dieses
verdammte Rauchverbot, aber sie hatte keine Lust hinauszugehen. „Darf ich ein Foto
machen?“, sagte eine weibliche Stimme neben ihr. Zunächst nahm sie es zur
Kenntnis ohne sich umzudrehen, denn sie sah keine Veranlassung zu meinen, dass
sie angesprochen war, doch da tippte sie ein Finger an. Es war unausweichlich.
Sie wandte sich um und sah in freche grüne Augen. Sanfte brünette
Ringellöckchen umrahmten ein helles, klares Gesicht. „Warum?“, fragte sie nur.
„Weil Du so etwas Herrschaftliches an Dir hast, mit den hochgestecktem Haar,
dem langen Hals, der sanften Rundung Deines Kinns. Ein klassisches Profil“, sagt
sie leichthin, „Ich heiße übrigens Laura.“ „Nona“, entgegnet die Angesprochene
verwirrt, „Gut, dann mach ein Foto von mir“, sagt Nona, und jetzt erst fällt
ihr auf, dass Laura ein knallrotes Kleid trägt, mit einem tiefen Dekolleté, dass
sehr viel verrät. „Danke“, sagte Laura, nachdem sie das Foto gemacht hat und
setzt sich zu Nona. Ihr Lächeln ist mitreißend. „Bist Du beruflich hier?“,
fragte Nona, um irgendwie ein Gespräch in Gang zu bringen. „Nein, eigentlich
nicht“, erwiderte Laura, „Ich bin zwar Fotografin, aber hier bin ich einmal
privat, bloß meine Kamera habe ich immer mit. Ich kann ja nie wissen, was ich
zu sehen bekomme“, entgegnet Laura augenzwinkernd, „Es ist ja auch
stinklangweilig hier.“ „Ja, das ist es“, bestätigte Nona. „Aber weißt Du, Du
wärst wunderschön, wenn Du Dein Haar öffnetest“, sagte Laura unvermittelt, und
schon spürte Nona ihre Hände an ihrem Nacken, in ihrem Haar, das die Spangen
löst und das lange Haar freigibt. „Du bist wunderschön“, sagte Laura, als sie Nona
nun mustert, als würde sie sich selbst bestätigen. „Hast Du Lust mit mir in
mein Atelier zu kommen. Ich will Dich sehen“, fragte Laura nun. Und Nona folgte
ihr, in ihr Atelier, einen offenen, weiten Raum. Nein, sie wissen nicht viel
voneinander, eigentlich gar nichts, aber als sie diesen Raum betraten, da
wusste Nona, dass sie hier gesehen wurde, gesehen wie nie zuvor, dass sie hier,
in Lauras Augen sein konnte, wie sie war. Und während Laura sich die Kamera
schnappte, bewegte sich Nona, zeigte sich, wie sie sich noch nie gezeigt hatte,
öffnete sich, wie sie sich noch nie geöffnet hatte, denn sie wurde gesehen, wie
sie noch nie gesehen wurde. Es war ihr, als könnte Laura allein mit ihrem Blick
Nonas Seele hervorkitzeln und die Bilder mit einem unbekannten Glanz erfüllen.
Nona überließ sich diesem Blick, in dem sie sich aufgehoben wusste, ganz und
gar, und als Laura die Kamera wieder weglegte, war es Nona, als wäre gerade ein
Moment vergangen, während vor den Fenstern der Morgen graute.
„Ich sehe Dich“, sagte Laura unvermittelt.
„Ich spüre es“, sagte Nona, „Und es ist belebend gesehen zu
werden.“
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen