Wo die Liebe hinfällt
„Du, Mama, was ist denn mit der Tante Irmi los?“, fragt mich
meine Tochter, als sie sieht wie ihre Großtante beschwingten Schrittes durchs
Wohnzimmer tänzelt.
„Wieso meinst Du, dass irgendetwas mit ihr los ist?“,
erwidere ich ihre Frage ungehobelter Weise mit einer Gegenfrage.
„Ja, siehst Du das denn nicht!“, erwidert sie verwundert.
„Was soll ich denn sehen?“, tue ich immer noch so, als würde
ich keine Ahnung haben was sie meint.
„Na ja, sie ist ständig so beschwingt, trällert vor sich
hin. Und dann dieser verklärte Ausdruck in ihren Augen, das permanente Lächeln,
und dauernd scheint es, als würde sie einem nicht wirklich zuhören, als wäre
sie mit den Gedanken ganz woanders, und dann, wie sie sich plötzlich kleidet
und überhaupt herausputzt. Geht denn das in ihrem Alter?“, fragt sie, und
scheint ehrlich bestürzt.
„Wenn es nicht um die Tante Irmi ginge, sondern um eine
Deiner Freundinnen, wie wäre Deine Diagnose über ihren Zustand?“, versuche ich
sie auf die richtige Spur zu bringen.
„Ich würde sagen, sie ist verliebt, ganz klar“, kommt es wie
aus der Pistole geschossen.
„Eben, genau das ist es“, erkläre ich ihr rundheraus, wobei
ich einmal kurz ihren Unterkiefer heben muss, der ihr gerade runtergefallen
ist.
„Die Tante Irmi? Verliebt? Das geht doch gar nicht!“,
entfährt es ihr, und die Entrüstung wirkt echt, „Die ist doch mindestens schon
... schon ... schon, na ja, mindestens sehr alt. Da gehört sich das doch nicht
mehr, dass man sich verliebt und herumhüpft wie ein Püppchen und die Menschen
um einen in große Sorge versetzt, und überhaupt, was ist mit ihrem Mann?“
„Erstens einmal, die Tante Irmi ist nicht so alt, sondern
gerade mal 69. Und ihr Mann, der Onkel Alois, den Du nicht mehr gekannt hast, ist
seit zwanzig Jahren tot. Meinst Du, sie muss nun den Rest ihres Lebens allein
bleiben?“, frage ich interessiert.
„Na ja, das vielleicht nicht, aber was ist mit der Würde des
Alters. Eine Frau mit fast 70, die sich benimmt wie ein Teenager, das ist doch
peinlich!“, bleibt sie bei ihrer Meinung.
„Also, wenn Du mich fragst, dann finde ich das einfach
schön, egal ob es die Tante Irmi betrifft oder Dich. Es ist einfach schön solch
eine Lebensfreude zu sehen, so viel Schwung und Energie, die sie plötzlich
wieder hat, das Leben, das neu zu pulsieren beginnt und sie mitreißt, sie
beflügelt. Ich finde es einfach schön, dass sie wieder jung ist“, sage ich
nachdenklich, während ich mich zu erinnern versuche, an jene Momente des
Lebens, da eine Begegnung stattfand, die das Leben neu beflügelte, neue Anreize
und Freude schenkte, dieses Momente des Verliebt-seins, „Denn die Liebe kennt
kein Alter.“
„Na ja, vielleicht hast Du recht, ein bisschen zumindest,
aber ungewöhnlich ist es schon“, lenkt sie ein wenig ein.
„Du kennst doch die alte Frau Zwitkowitsch, die zwei Häuser
weiter wohnt?“, frage ich.
„Ja, klar, diese bärbeißige Alte, mit der nur Du kannst“,
entgegnet sie wie aus der Pistole geschossen.
„Weißt Du warum sie so ‚bärbeißig’ ist?“, frage ich weiter.
„Woher soll ich das wissen? So einer geht man doch am besten
aus dem Weg“, erklärt sie eigensinnig.
„Sie ist allein und ist krank, nicht so, dass sie immer im
Bett bleiben müsste, aber genug um zu leiden. Ihr Sohn und ihre Tochter haben
ihr schon lange den Rücken gekehrt und wollen nichts mit ihr zu tun haben.
Deshalb ist sie so. Und wenn man das weiß, dann versteht man sie vielleicht ein
bisschen besser“, entgegne ich, und statt einer Erwiderung, steht meine Tochter
auf und zur immer noch verträumt lächelnden Tante Irmi, nimmt diese an beiden
Händen und zwingt sie aufmerksam zu sein.
„Tante Irmi, ich freue mich für Dich, dass Du so glücklich
bist!“, und ich muss unwillkürlich lächeln.
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