Das Leben zu be-greifen
„Was nur, was, tut man an so einem gottverlassenen, oder
sonst was verlassenem Ort den ganzen Tag? Wie bringt man die Zeit herum?“,
hatte sich Maria am ersten Tag, am Tag ihrer Ankunft noch gefragt, doch bereits
am nächsten war die Frage verschwunden. In Windeseile war der Tag vergangen,
erfüllt mit Tätigkeiten, die unmittelbar Sinn machten, bis sie am Abend, mit
einem Buch in der Hand einschlief. Sie konnte sich nicht mehr entsinnen wann
sie das letzte Mal so ruhig und gut geschlafen hatte, ohne die anhaltende
innere Getriebenheit, die ihr wie ein Feldwebel ständig zurief, sie solle doch
verdammt nochmal jeden Moment des Tages nutzen. „Wissen Sie warum Sie eine
meiner besten, ja meine beste Studentin sind?“, hörte sie ihren Professor
fragen, der immer ständig solche Fragen stellte, um sie auch rundweg selbst zu
beantworten. Das war immer der Moment, in dem man die Frischlinge sofort
erkannte, denn es waren diejenigen, die meinten, dass die Frage an jemand
anderen gerichtet war. Hurtig ergriffen sie das Wort, doch es wurde ihnen
sofort deutlich gemacht, dass sie gefälligst den Mund zu halten hatten, wenn
der Vorgesetzte sprach. Abmahnende, drohende Blicke durchfuhren wie Säbel den
Vorlauten. Jeder hatte es verstanden, bis auf eine Studentin, die sich durch
nichts beirren ließ und munter weiter plauderte. „Eine Frage, die man sich
selbst beantwortet, ist keine Frage, sondern eine Frotzelei“, erklärte sie,
nachdem sie von ihrem Kollegen auf den Fauxpas hingewiesen wurde. Sie hatte das
Institut auch schon bald verlassen, und studierte nun Philosophie oder irgend
etwas anderes Unnötiges, so weit Maria erfahren hatte. „Sie sind meine beste
Studentin“, antwortete der Professor also auf seine eigene Frage, „Weil Sie
jede Minute des Tages nutzen, weil Sie 16 Stunden am Tag aktiv sind, deshalb,
und weil sie meinen Vorgaben Folge leisten.“ Aufs Höchste mit sich und der Welt
und mit sich zufrieden war er während dieses Vortrags auf seinem Schreibtisch
gesessen, breitbeinig, während Maria ihm gegenüber auf einem kleinen Stuhl saß.
Schon diese Anordnung zeigte die soziale Stellung, die sie einnahmen. Maria
musste lächeln, denn zum ersten Mal wurde ihr bewusst wie viel Redundanz es
erforderte um diesen Vorgaben zu genügen. Löcher ausheben um sie wieder
zuzuschütten. Das war der ganze Sinn. Doch wenn sie hier das Feuer im Kamin
entfachte, dann wurde der Sinn unmittelbar ersichtlich. Das Feuer wärmte den
Raum, doch anders als eine sterile Elektroheizung, mit einer lebendigen Wärme.
„Komm, wir müssen Späne hacken“, forderte Magdalena ihre Nichte auf, nachdem
sie das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatten. „Aber das kann ich doch nicht“,
warf Maria ein, obwohl sie genau wusste, dass es keinen Sinn hatte. „Als Du
klein warst konntest Du es“, erwiderte Magdalena lächelnd und ging ihr voran in
den Schuppen, der neben dem Haus lag. Der Sturm hatte endlich nachgelassen, so
dass die dicken Schneeflocken beschaulich und langsam zur Erde fielen. „Meine Elfen
haben ein bisschen zu viel gegessen“, hatte Maria an diesem Morgen gedacht,
doch ohne den Gedanken wegschieben zu wollen. Sie ließ ihn gewähren, auch
außerhalb ihrer Träume. Die Landschaft ersteckte sich in sanften Hügeln vor
ihnen, die mit einer dicken, weißen Decke verhüllt waren. Zaghaft brach die
Sonne durch die Wolken und entlockte den Schneekristallen da und dort ein
Glitzern. Magdalena drängte nicht, sondern ließ Maria gewähren, als sie merkte,
dass sie ihren Blick hinaus in die Welt schickte. Als würde sie zum ersten Mal
seit sehr langer Zeit wirklich hinsehen. Erst als Maria wieder den Blick
zurückholte ging Magdalena ihr die wenigen Schritte voran in den Schuppen. An
allen Seiten war Holz aufgestapelt. Es würde für diesen Winter reichen, selbst für
solch einen langen, wie er am nördlichsten Punkt Österreichs zu herrschen
pflegte. „Der Winter fühlt sich wohl bei uns“, pflegte Magdalena zu sagen. Aus
irgendeiner Lade in ihrem Gedächtnis war der Satz herausgehüpft, einer Lade,
von der Maria noch nicht einmal mehr gewusst hatte, dass sie da war, doch nun
war sie entdeckt und sacht nahm Maria ein Stück ums andere heraus. „Aber warum
haben wir Späne gehackt, wenn ich doch im Sommer hier war?“, fragte Maria,
nachdem sie den Schuppen betreten hatten, der vollgefüllt war mit Feuerholz, so
dass sie nicht fürchten musste zu frieren. „Du warst so wissbegierig, so
neugierig, wolltest alles mitmachen, alles lernen. Ganz im Gegensatz zu Deiner
Schwester, die immer nur herumsaß und sich bedienen ließ. Keinen Schritt setzte
sie vor die Türe, aus lauter Angst schmutzig zu werden oder etwas Unsauberes
mit den Händen anzugreifen, aber du warst mitten drinnen im Geschehen, beim
Versorgen der Tiere, bei den Arbeiten im Gemüsegarten, beim Kochen und eben
auch beim Spänehacken, die Dein Großonkel schon für den Winter vorbereitete.
Und dann darfst Du nicht vergessen, dass es hier auch im Sommer schon mal recht
kalt werden kann. So ist man immer vorbereitet.“ „Und ich bin auch mit ihm in
den Wald gegangen?“, fragte Maria weiter. „Ja, das bist Du“, erwiderte
Magdalena lächelnd, während sie das erste Holzscheit auf den Pflock stellte und
die kleine Hacke zur Hand nahm, „Mein Mann wusste alles über den Wald. Du warst
so voller Begeisterung, wenn es Euch gelang etwas zu entdecken, einen
Ameisenhaufen, einen Fuchsbau, den Biberdamm.“ „Es war immer so friedlich und
harmonisch bei Euch“, hörte sich Maria sagen, während ihr unzusammenhängende
Bilder durch den Kopf schossen, vom Naschen aus einem Marmeladeglas, von
Schafen auf der Weide, dem hohen Gras, durch das sie lief, bevor es sich dem
Schnitter beugen musste, von verstohlenen Sonnenstrahlen, die durch die Bäume
fielen und der Hacke in ihrer Hand. Ja, es stimmte, sie waren genau hier
gestanden und ihr Großonkel hatte es ihr gezeigt. Ihre Haut war gerötet, vor
Eifer und Freude. Schaffen mit den Händen. „Friedlich und harmonisch“,
wiederholte sie, als wollte sie sich den Klang der Worte nochmals zu Gemüte
führen, „Ganz anders als bei uns zu Hause, wo es immer laut war und nichts herrschte
als Unzufriedenheit. Ich wäre so gerne hier geblieben. Irgendwann, so dachte
ich damals, würde ich ein Handwerk lernen, Tischler oder Zimmermann und dann
könnte ich alles reparieren und ausbessern und die Möbel restaurieren. Das
sagte ich auch Onkel Toni, und ich weiß noch, er hat mich angelacht und
gemeint, dass das schön wäre, wenn ich bei Euch bliebe.“ „Es wäre schön
gewesen“, gab Magdalena zu. „Und dann haben sie uns geholt, mich und Johanna.
Johanna war heilfroh, aber ich wollte nicht weg, und da hat mir Mama gesagt,
dass ihr uns nicht länger hierhaben wolltet, dass ihr froh wärt, wenn wir
endlich wieder weg waren, weil wir für Euch nur eine Belastung waren, das hat
sie gesagt“, fuhr Maria fort, die mit einem Mal begriff warum sie diese
Erinnerung in eine der untersten Schubladen gesteckt hatte und alles tat um es
zu vergessen. Es war ihr beinahe gelungen, so dass nichts weiter blieb als ein
bitterer Nachgeschmack. „Ich habe das auch erst viel später erfahren.
Irgendwann hat es mir Deine Mutter erzählt, weil sie meinte, wir hätten Dich
verdorben“, erzählte Magdalene ungerührt, die mehr auf die Kraft der Taten als
die der Worte vertraute, und Maria wusste nun wie es wirklich war, damals,
nachdem sie das ganze Bild wiedergefunden hatte. Die Tage voll Sonnenschein und
Eintracht und Miteinander, aber auch den Schmerz des Abschieds. „Nie wieder
würde ich herkommen, habe ich mir damals geschworen“, fiel es Maria wieder ein,
„Ich schwor mir aus dem Elend und der Enge auszubrechen, und den einzigen Weg
sah ich darin finanziell unabhängig zu sein, und das hieß für mich so viel Geld
zu haben, dass ich von niemanden abhängig war, geschaffen durch meine eigene
Arbeit. Dann würde ich glücklich sein, irgendwo in einer großen Stadt, irgendwo
inmitten vieler Menschen, die alle ihre eigenen Ziele verfolgen. Aber langsam
entdecke ich, dass Unabhängigkeit auch Einsamkeit ist. Wo Misstrauen und
Vorsicht dominieren, weil man weiß, dass der andere genauso rücksichtslos
agieren würde wie man selbst, da gibt es keine Freundschaft und keinen wirklich
menschlichen Kontakt. Immer auf der Hut und immer wachsam. Das wäre das Leben
gewesen, das mich erwartet hätte.“ Resolut nahm sie die Hacke in die Hand, die
ihr Magdalena reichte, setzte sie an, hieb leicht in das Holz um eine kleine
Kerbe zu erhalten, um danach den Scheit hochzuheben und ihn mit voller Wucht
auf den Pflock donnern zu lassen, so dass der erste Span herunterfiel. „Siehst
Du, Du kannst es“, sagte Magdalena lächelnd, und das Webschiffchen fuhr durch
die Bänder eine neue Reihe zu bilden auf dem Webbild des Lebens, eine besondere
Reihe, denn sie schloss in sich Bilder aus einem früheren Teil des
Gesamtbildes, und es war der dritte Tag des Advent.
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