Der
Tod hat keine Bedeutung
Ines war zu Tode betrübt, im wahrsten Sinne des Wortes, denn ihre
Mutter war gestorben. Wenn man sie gefragt hätte, in jenem oder einem anderen
Moment, wann ist es passiert, das Unfassbare, sie hätte einen angesehen und
nicht gewusst was sie antworten sollte, denn alles war verschwommen in ihr,
alles vermengt in einen großen, nassen Ball aus früher und jetzt und später.
Nichts mehr war greifbar, ausser dem einen Gedanken, dass sie nun nicht mehr
war. Doch was war es, das nicht mehr da sein? Ines war inzwischen erwachsen,
hatte selbst Kinder bekommen und war Mutter. Sie hatten sich selten gesehen,
Ines und ihre Mutter. Beide waren sie eingespannt ganz banal, in das Leben, in
Gegebenheiten und Verpflichtungen und Aufgaben. Manchmal sahen sie sich
wochenlang nicht. Ines musste sich um die Kinder kümmern. Ines Mutter musste
arbeiten und ihren Mann, Ines Vater, versorgen. Immer gab es was zu tun. Jetzt
hatte sie nichts mehr zu tun, dachte Ines, jetzt hätte sie Zeit, aber es gab
keine Gelegenheit mehr, denn sie war ja nicht mehr. Wann es passiert war,
konnte sie nicht genau ausmachen. Die Tage, die Nächte, die Stunden und Minuten
hatten ihre Gestalt verloren und das Leben schien einfach nur mehr
dahinzukriechen, wie zäher, träger Schleim, nicht zu beurteilen ob langsam oder
schnell, vorwärts oder rückwärts, und mitten drin in diesem zähen,
undefinierbaren Schleim steckte Ines, mit ihrem Kummer und ihrer Verlassenheit,
mitten drinnen, und wenn sie sich umsah, erkannte sie kein Ende, keine
Abgrenzung, nichts als zäher Schleim. Es gab nichts mehr zu tun. Nein, nicht dass
die Gegebenheiten und Verpflichtungen und Aufgaben aufgehört hätten. Die waren
natürlich da, nach wie vor und Ines erledigte sie auch, wie es erwartet wird,
doch es war ein Teil von ihr, der das automatisiert und gedankenlos konnte,
denn sie selbst steckte fest in diesem zähen, undefinierbarem Schleim, der sie
hin und her zog, wohin er sich eben gerade ausbreitete. Es spielte keine Rolle
mehr. Alles bedeutungslos, weil ihre Mutter nicht mehr war. Ines Mutter, und
Ines merkte, dass sie es war, die dazu beigetragen hatte, dass das Leben eine
Konstante hatte. Ganz gleich wie lange sie sich voneinander bewegt hatten, sie
fanden immer wieder zusammen. Doch jetzt konnte sie keine Macht der Welt mehr
zusammenfinden lassen. Sie war einfach weg, einfach gegangen. Sie war weder alt
noch gebrechlich gewesen, nur krank geworden und weggegangen. Und Ines fühlte
eine wilde Wut in sich aufsteigen. Wie konnte es ihre Mutter wagen, sich
einfach davonstehlen aus dem Leben und von ihr und aus ihrem Zusammenfinden.
Hatten sie nicht gestritten, bevor sie ging? Wie konnte sie nur? Aber die Wut,
so wusste Ines, die durfte nicht sein, denn sie musste ja traurig sein, und die
Verstorbene war nun unantastbar, denn sie konnte nicht mehr Stellung beziehen.
„Der Tod hat keine Bedeutung“, sagte ich Ines, als sie neben mir
saß auf dem Steg, und doch immer noch feststeckte in ihrem Lebensschleim.
„Wie kannst Du das sagen? Ich wurde verlassen und die Kinder haben
keine Großmutter mehr und mein Vater keine Frau ...“, protestierte Ines lautstark.
„Für Deine Mutter hat er keine Bedeutung. Sie hat keine Schmerzen
mehr, leidet weder Hunger noch Durst, weder Schmerz noch Entbehrung. Er spielt
keine Rolle. Für Dich spielt er eine Rolle, und für die Enkelkinder und den
Mann und alle anderen, aber warum kannst Du sie nicht einfach als sie selbst
bewahren, und weiterleben, denn niemand kann Dir das Erleben mit ihr nehmen.
Nicht einmal der Tod“, versuchte ich zu erklären.
Langsam wird sich der Schleim wieder zu einem Leben verfestigen.
2 Kommentare:
ein beruhigender Gedanke dein Nachtgedanke .Mir steht so etwas noch bevor und ich wage nicht mir zuviele Gedanken dazu zu machen .
Vielen Dank! Ich bekomme immer wieder zu hören, man braucht sich nicht mit dem Tod auseinanderzusetzen, das ist doch pervers, und dann steht man da und weiß nicht wie weiter. Natürlich, in der Situation selber ist es schwer, aber es geht auch darum einen Anker zu finden für sich, an dem man sich halten kann und der einen hilft weiterzumachen. Natürlich mache ich mir auch nicht jeden Tag Gedanken, aber immer wieder werde ich konfrontiert, und dann sollte man es auch zulassen. Wohlgemerkt, nicht runterziehen lassen. Es geht auch darum wie wir mit Abschied und Loslassen umgehen können, und das können wir jeden Tag lernen. Kann ich jemanden gehen lassen?
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